© Schauspielhaus Hamburg, Foto: Monika Rittershausen
Lina Beckmann setzt Roland Schimmelpfennigs vielstimmigen Text, den er auf der Grundlage überlieferter Mythenvarianten in freier Form neu schrieb, umwerfend um. In „Laios“ rückt er Ödipus’ Vater ins Rampenlicht. Dieser soll Theben in der vierten Herrschergeneration vor dem Untergang bewahren.
Schimmelpfennigs Konzept des „Es-könnte-so-gewesen-sein oder auch anders“ haucht Lina Beckmann durch mimetische Verwandlungen brachiales Leben ein. Sie erzählt die Varianten und spielt sie zugleich, lässt alle und damit ganz unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen: Laios, Iokaste, Chrysippos, Teiresias, Pythia und den politischen Rat von Theben. Wer gerade spricht, beansprucht die Wahrheit für sich. Doch eine Variante fegt die nächste vom Tisch. Der Versuch, den Mythos zu erklären, schlägt in einen Deutungswahn um, der letztendlich keine neue Lösung bringt.
Die große Bühne bleibt bewusst im fragmentierten Verweischarakter. Ein roter Teppich in Miniversion versinnbildlicht die Herrscherfamilie. Eine Mauer zeugt von der Zerstörung Thebens, verstärkt durch den projizierten Wald. Die tote Kuh erinnert an die Stadtgründung Thebens durch Kadmos, Masken auf Stelen an die Herrscher von einst. Jedes Detail erzählt eine neue Geschichte und fordert vom Zuschauer Ergänzungsenergie. Alles ist möglich.
Beeindruckend rockt Lina Beckmann unter der Regie von Karin Beier geistig durch die Antike und holt sie schauspielerisch in die Gegenwart. Gekonnt leuchtet sie Schimmelpfennigs Text zwischen belustigender Trivialität und brutaler Tragik aus, stürzt niemals in Klamauk ab, sondern enthüllt vielmehr durch die harten Stimmunsgbrüche, wie nahe alles beieinander liegt in diesem Kosmos voller Konflikte und Untiefen der Grausamkeit. Lina Beckmann braucht weder Maske noch aufwändige Kostüme. Allein durch Blick, Stimme und Bewegung verwandelt sie sich in immer neue Figuren dieser „kranken Scheiße“ einer 2500 Jahre alten Geschichte, um dann abrupt wieder in die Erzählerrolle einzutauchen oder sich kritisch zu mokieren: „Ist das nicht Irrsinn!“ Das aufzuzeigen und die dramatische Spannung über eineinhalb Stunden nicht nur zu halten, sondern immer noch etwas zu steigern, ist ihre grandiose schauspielerische Leistung.
©Schauspielhaus Hamburg, Foto: Monika Rittershausen
Als kettenrauchende Seherin Pythia hustet sie die schlimme Prophezeiung aus, dass Ödipus seinen Vater töten und seine Mutter schwängern werde. Aus welcher Perspektive auch erzählt wird, die Brutalität in der Welt bleibt. So oft Lina Beckmann auch kreischt, Symbol des Aufbegehrens gegen das Schreckliche, das Schicksal nimmt seinen Lauf. Egal, welche Varianten aufgezeigt werden, jede endet furchtbar. Gerade in dieser pessimistischen Weltsicht spiegelt sich viel Gegenwart. Wirklich neu ist das alles nicht.
Im Schauspielhaus Hamburg sind alle fünf Folgen des „Anthropolis“-Marathons kompakt an verschiedenen Wochenenden zu sehen.
Künstlerisches Team: Karin Beier (Regie), Johannes Schütz (Bühne), Wicke Naujoks (Kostüme), Jörg Gollasch (Musik), Voxi Bärenklau (Video), Sybille Meier (Dramaturgie)