Wüstensteppe auf der Projektionswand, Sand und Abfall auf der Bühne. In diesem Umfeld erzählt eine Kriegsfotografin über…
©Schaubühne, Foto: Nurith Wagner-Strauss, 2025
die Grausamkeiten, zu denen die Menschen fähig sind. Milo Raus neues Stück „Die Seherin“, das im Juni bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wurde, sorgt jetzt in der Schaubühne für Furore. Rau verarbeitet Lebensgeschichten von Kriegsfotografen, irakischen Bürgern und eigenen Erlebnissen zu einer Collage mit zwei Erzählsträngen. Seine Begegnung mit dem Lehrer Azad Hassan in Mossul wird in der „Seherin“ zu einer schicksalsträchtigen Begegnung mit einer Kriegsfotografin, die durch ihre Fragen sein Leben offenbart und gleichzeitig das ihre hinterfragt. Über diese beiden unterschiedlichen Perspektiven fokussiert Milo Rau auf die kriegerischen Gräueltaten und speziell auf die Schreckensherrschaft des IS und die Frage, warum Gewalt so verführerisch ist. Als Regisseur baut er einen intensiven Spannungsbogen auf, indem er Emotionen und Fakten eng verknüpft, gefühlsmäßigen Miterleben und rationale Analyse ermöglicht.
Die Kriegsfotografin, hervorragend, tiefgründig und facettenreich, von Ursina Lardi gespielt, sucht zunächst nach Antworten in Bezug auf ihre Faszination für Kriegsbilder. Schon als Kind interessierte sich diese Fotografin für die Metzeleien der Griechen. Schauspielerisch begabt spielte sie den Boten, der den verbannten Bogenschützen Philoktet die Botschaft überbrachte, für die Griechen im Krieg gegen Troja zu kämpfen. Später fühlte sie sich selbst wie Kassandra, die den Schrecken beginnender Gewalt als erste auf Zelluloid bannt. Euphorisch erzählt sie von den magischen Momenten, treffsicher mit dem Schuss auf die Kamera zu drücken. Es waren Momente von Freiheit und Macht. In einer erschreckenden Performance schwenkt Lardi im Stroboskoplicht unter dem Geknatter von Maschinenpistolen immer wieder Arme zum Fotografieren. Das geht wie in einem Thriller unter die Haut, schaltet das Denken aus. Ein Volltreffer nach dem anderen. „Welch ein Gefühl!“ Gleichzeitig macht sich diese Kriegsfotografin über ihre männlichen Kollegen lustig, die sich in Hotels verschanzen, während sie als Frau vor Ort die Herausforderung sucht, wie Kassandra schon neue Horrorszenarien im Blick hat. Im Arabischen Frühling wird sie selbst zum Opfer der Gewalt, niedergeschlagen und vergewaltigt. Die Nase ist gebrochen, das Trommelfell geplatzt. Albtäume verfolgen sie. Für den Zuschauer erschließt sich damit der Vorspann, als sich die Haut an einer Wade ritzte, bis Blut floss, nicht nur als Anspielung an Philoktets Verbannung, sondern auch als autoaggressives Verletzung durch zu starke psychische Belastung.
Ganz schlicht und ruhig dagegen erzählt Hassan im Video seine Geschichte in Arabisch mit deutschen Untertiteln. Weil er seine berechtigte Schuldforderung einklagte, wurde ihm die Hand abgehackt. Das bisherige Recht ist außer Kraft, die Gewissheit von Wertesystemen ausradiert. Den Worten folgen filmische Sequenzen von der Realisierung des Gerichtsurteils, Bilder, die man lieber nicht sehen möchte. Als Hassan seinen Armstumpf zeigt, stockt der Atem. Sein Blick spiegelt sein Leid als Opfer eines inhumanen Systems, indem er seine menschliche Würde verloren hat. Es ist genau der Blick, den sie, wie die Fotografin gesteht, immer gesucht hat. Der Blick des Einvernehmens über die sinnlose Grausamkeit in der Welt. Der Blick von Mensch zu Mensch ist letztendlich, das, was bleibt und vor der Vereinzelung und Vereinsamung schützt. Sie hört zu fotografieren auf und nutzt ihr Talent als Schauspielerin. Immer wieder untermalt mit klassischer und arabischer Musik wird gleichzeitig die heilende Wirkung der Kunst erlebbar. Es ist ein bewegender, tiefgründiger Theaterabend.
Künstlerisches Team: Milo Rau (Text, Regie), Ella Redinger (Sounddesign), Moritz von Dungern (Video), Bettina Ehrlich, Carmen Hornbostel (Dramaturgie), Erich Schneider (Licht), Susana Abdul Majid (Übersetzung, Sprachcoach Arabisch), Sardar Abhullah (Beratung, Koordination im Irak)
Mit: Ursina Lardi