©Serghei-Gherciu
Ganz traditionell lässt Wheeldon die drei Akte von „Cinderella“ in klassischer Manier vertanzen und trotzdem wirkt sein Tanzstil durch die vielen satirischen Elemente herrlich erfrischend. Mit über 50 TänzerInnen des Bayerischen Staatsballetts, der Ballettakademie und der Heinz-Bosl-Stiftung in mehr als 350 Kostümen kombiniert mit Videoprojektionen, visuellen Effekten und trickreichen Bühnenverwandlungen entwickelt Wheeldon ganz nah an Grimms Märchen eine theatrale Traumwelt, die er personell noch um vier gute Geister weitet. Die eifersüchtig stichelnden Stiefschwestern kontrastiert er mit zwei jungen kämpfenden und juxenden Jungen, dem Prinzen und dessen Freund. Während die Prinzen als Freunde heranwachsen, differenziert Wheeldon die Schwestern charakterlich. Clementine mit Brille ist etwas liebenswürdiger, aber Edwinas immer drastischere Bösartigkeiten färben auf sie ab.
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Entsprechend wird das klassische Tanzrepertoire immer wieder durch ironische Bewegungen durchbrochen. Missglückte Sprünge, verwackelte Posen, verpatztes Timing, Schubsen, Nachtreten, Zu-Boden-Zwingen machen jeden Tanz der bösen Schwestern zur Parodie, während die beiden kleinen Prinzen mit Holzsäbeln allerliebst durch die kaiserlichen Räumlichkeiten jagen. Durch die Hilfe der Geister schwebend wie eine Elfe, sanft bis zum Boden abrollend, durch wunderbar grazile Armbewegungen, Spitzentanz und hingebungsvollen Einklang mit dem Prinzen strahlt Cinderella gerade durch ihre Schlichtheit und ihr hauchzarte Optik im Umfeld rauschender Roben wie ein kleines Juwel.
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Jede musikalische Pointe und Dissonanz, jeden Rhythmus- und Dynamikwechsel, vom Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Gavin Sutherland plastisch und expressiv dirigiert, visualisiert Wheeldon in sehr empathischen oder extrem ironischen Tanzbewegungen.
Prokofjews Musik, eine Auftragsarbeit für das Mariinsky-Theater, wurde 1945 unter dem Aspekt des kommunistischen Klassenkampfes sehr heroisch vor 2000 Diplomaten uraufgeführt, um der Welt zu zeigen, dass Russland sich nun nicht mehr von Europa knechten lassen werde. Musikalische Änderungen gegen den Willen des Komponisten wurden zwar bereits bei der Leningrader Inszenierung wieder aufgehoben, aber Prokofjews Musik lässt in ihrem kämpferisch parodistischen Duktus aufhorchen. Und genau den nutzt Wheeldon für die ironischen Passagen, wenn er zu Grimms schlichter Märchenerzählung zurückkehrt.
Faszinierend wie schon bei „Alice im Wunderland“ sind Wheeldons Bühnenideen. Sehr gerafft, aber auch sehr plastisch, naturalistisch vertanzt er die Vorgeschichte im ersten Akt zwischen regnerischem Begräbnis, Cinderellas freudlosem Alltag in der Stieffamilie und ihr energetisches Erwachen in der Natur. Im Wechsel der Jahreszeiten signalisiert der Baum, wie die Jahre dahinjagen. Er spannt seine Äste weit über die Bühne und die Krone wogt im Wind. Grün erstrahlt er im Frühling, leuchtend gelb im Sommer, ahornrot im Herbst und flirrend eisig blau im Winter, umringt von TänzerInnen in gleichfarbigen Kostümen, die einzeln oder paarweise als Geister frühlingshafter Leichtigkeit, sommerlichen Fließens, herbstlicher Großmut oder winterlichen Geheimnisses herumwirbeln, mittendrin Cinderella als Teil der Natur, wo sich später noch tanzende Vögel, Kastanien und Fabelwesen dazugesellen. Schließlich verschwindet Cinderella im Stamm des Baumes und tanzt wie eine irrlichternde Elfe heraus. Die herumwirbelnden Geister und Kreisformen aus Blättern formieren sich wie in einem Schwarzlichttheater kaum sichtbar zur Kutsche, in der Cinderella zum Schloss braust. Ein großartiger Bühnenmoment!
Mit einer bühnengroßen Europakarte verweist der zweite Akt auf das politische Hintergrundszenarios Prokofjews, mit einer frei schwebenden Ahnengalerie fast ein Dutzend weiblicher Herrscherinnen als Hommage an die Energie der Weiblichkeit denkbar. Im Ballsaal entfaltet sich indes Tanzsatire. Das Corps de ballet walzt unter flirrenden Kronleuchtern im Dreivierteltakt zwischen höfisch ironischer Steifheit, durchsetzt von alternierenden „frozen moments“ im bewusst unsynchronen Durcheinander. Cinderellas Stiefschwestern überbieten sich in tänzerischen Bösartigkeiten, bis Clementine reglos am Boden liegt, um vom Freund des Prinzen, der sie schon längst als seine Herzensdame erwählt hat, fürsorglich und verliebt aufgehoben zu werden. Die Stiefmutter liefert betrunken mit einem Diener eine witzige Slapstick-Nummer, die an den Charme von „Dinner for One“ erinnert. Sobald Cinderella auftaucht, verwandelt sich der Ballsaal in ein empathisches Miteinander. Die Kraft echt empfundener Liebe durchpulst den Saal. Das Corps de ballet findet plötzlich zu einer wogenden Synchronität und die fulminanten Hebefiguren in den wallenden Ballkleidern spielen augenzwinkernd auf orgiastische Endorphinisierung an.
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Mit einer langen Warteschlange wird die Schuhprobe zur Parodie. Die Samtstühle entschweben nach oben, als hätte sich die Monarchie aufgelöst, und geben den Blick frei auf Cinderellas ungeliebte Familienszenerie, wo die Mutter ihrer Tochter den Schuh, natürlich zum Sujet passender goldener Ballettschuh, regelrecht auf den Fuß hämmert und ihn, als das nichts nützt, ins Ofenfeuer wirft.
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Cinderella holt den zweiten Schuh aus dem Versteck. Im Hintergrund flirren die Kristallleuchter in der Baumkrone. Das Happyend ist perfekt, nicht nur durch die Liebe der beiden Paare, sondern auch in der Symbiose von Natur und Kultur, in heutigen Zeiten wahrhaft märchenhaft.
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Das Publikum jubelt begeistert. Die Baummetapher darf jeder Zuschauer als eigenen, zumindest ideellen Schatz nach Hause mitnehmen.
„Cinderella“, Schlussapplaus ©Michaela Schabel
Künstlerisches Team: Christopher Wheeldon (Choreographie), Gavin Sutherland (Musikalische Leitung), Julian Crouch (Bühne, Kostüme), Natasha Katz (Licht), Daniel Brodie (Projektionen), Basil Twist 8
(Baum- und Kutschenszene) Jason Fowler, Jonathan Howells, Charles Andersen (Einstudierung)
In den Hauptrollen tanzen Madison Young (Cinderella), Jinhao Zhang (Prinz Guillaume), Prisca Zeisel (Stiefmutter Hortensia), Elvina Ibraimova (Stiefschwester Edwina), Bianca Teixeira (Stiefschwester Clementine)