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Berlin – Schuberts „Winterreise“ – expressiv getanzt vom Berliner Staatsballett

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Berlin – Schuberts „Winterreise“ – expressiv getanzt vom Berliner Staatsballett

©Staatsballett Berlin, Foto: Carlos Quezdad

Graue Wände, kaltes Licht aus Neonröhren, Kehrgeräusche, die TänzerInnen ganz in Schwarz, existenzialistisch überall und jederzeit denkbar choreografiert Christian Spuck Schuberts berühmten romantischen Liederzyklus von der „Winterreise“ (1827) als Psychogramm des vereinsamten Menschen schlechthin…

nicht vom Klavier begleitet, sondern nach Hans Zenders facettenreichen Klangversion für Tenor und kleines Orchester (1993). Diese Komposition offeriert unter dem romantischem Sehnsuchtsmotiv von der Liebsten getrennt zu sein die emotionalen Tiefenstrukturen. Unter dem Dirigat von Dominic Limburg von der Staatskapelle eindrucksvoll interpretiert ist die Musik eine Steilvorlage für eine spannende choreografische Ausleuchtung. Die Gesangspassagen bleiben unangetastet, die Gitarre ersetzt das Klavier, erweitert um Harfe, Akkordeon Bläser und Perkussion, wodurch die „Winterreise“ an akustischen Effekten gewinnt, in denen sich die innere Reise des lyrischen Ichs spiegelt. Matthew Newlin singt die 24 Lieder in erhöhter Position sichtbar vorwiegend aus dem Orchestergraben sehr klar, so dass der Tanz als emotional pulsierendes Ereignis ganz in den Mittelpunkt rückt. 

Romantische Melancholie, schriller Herzensschmerz steigern sich entlang der Partitur. Doch Spuck will die Narrative der „Winterreise“ nicht bebildern, ihn interessieren die existentiellen Sehnsüchte und Ängste. Die dunklen Kostüme signalisieren Winter- und Trauerstimmung, umso mehr leuchten die freien Körperpartien, sowohl Ausdruck von Kälte als auch von Wärme und Nähe. Kongruent bis in die musikalische Achtelstrukturen, zwischen Pad de deux, Pad de trois und Ensemble alternierend, entwickelt sich ein rasantes Chargieren von Sehnsucht, Annäherung und Distanz in immer neuen Variationen. Ein ständiges Kommen und Verschwinden verweist auf existentielle Fragestellungen, noch mehr, wenn die TänzerInnen aus zwei Bodenvertiefungen auftauchen und verschwinden, wenn sie als surreale Symbole als abstrahierte Bäume, auf Stelzen oder mit meterhoch übereinander gestülpten Hüten den Tod signalisieren. 

Wenn Zender musikalische Motive mehrmals wiederholt, Wind- und Regengeräusche, perkussiv schrille Töne hörbar macht, wird dies im Tanz durch Wiederholungsschleifen, rasantes Tempo, bizarre Bein- und Armhaltungen sichtbar. Mitten in romantischen Umdrehungen wehren zappelnde Beine, geflexte Füße und Hände ab, werden geschmeidiges Miteinander und embryonal schutzsuchende Umarmungen durch stocksteife gerade Haltungen konterkariert. Kraftvolle Sprünge und extravagante Umschlingungen fusionieren klassisches Ballett mit modernen Tanzstil. Extreme Größenunterschiede von Mann und Frau offerieren männliche Dominanz, gleichzeitig die Sehnsucht nach Schutz und Schutzgeben, im Sinne von „alles eines Irrlichts Spiel“. Noch faszinierender als die Pas de deux sind die Ensemble-Choreografien zwischen Pulk und Soli. Pulsierende Menschenknäuel lösen sich in Windeseile auf, agieren individuell, in Bahnen und rhythmischen Verschiebungen, in denen sich kollektive Ähnlichkeiten spiegeln, um sich wieder zu verdichten und verschwinden.

„Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht“, singt Nevlin, während es zu schneien beginnt. Gleichzeitig wandeln TänzerInnen in wallenden Gewändern wie steinerne Denkmäler umher, bevölkern Raben die Bühne. In Nude-Optik tauchen die TänzerInnen wie eine Auferstehungsvision auf, wodurch die „Winterreise“ für einen Moment ihren Schrecken verliert. Das letzte Pad deux nähert sich dem Abgrund, während der Vorhang sich senkt. Diese abstrahiert existentielle „Winterreise“ berührt zwar nicht emotional, aber sie beeindruckt durch die expressive Konzeption, tänzerische Interpretation und die gelungene Fusion von Gesang, Musik und Choreografie.

Künstlerisches Team: Christian Spuck (Choreografie, Inszenierung, Dramaturgie), Hans Zender (Musik), Dominic Limburg (Musikalische Leitung, Rufus Didwiszus (Bühne), Emma Ryott (Kostüme), Martin Gebhardt (Licht), Michaela Küster, Katja Wiegand (Dramaturgie)

Mit: TänzerInnen des Staatsballetts, Tenor Matthew Newlin, Staatskapelle Berlin

Schuberts „Winterreise“ ist auch im Theater Regensburg zu sehen. https://schabel-kultur-blog.de/tanz/regensburg-eine-winterreise-ein-tanzabend-von-wagner-moreira-nach-franz-schuberts-winterreise-und-der-komponierten-interpretation-von-hans-zender/