Die Kontrabässe geben die Tonlage vor. Mächtig mischen sich die Pauken ein und signalisieren, was kommt, wird heftig und ereignisreich. Die Bühne reduziert auf eine Fensterfront gewährt einen voyeuristischen Einblick in eine distinguierte, wohlhabende Familienstruktur, später Machtzentrum und Folterkammer. Das Volk davor verharrt draußen auf der großen Bühne in der Zuschauerrolle, manipulierbar und hat die Folgen von Rebellion zu tragen.
Wie in einem spannenden Film überaus packend inszeniert präsentieren die Tiroler Festspiele Erl eine „Mazeppa“-Version, die losgelöst von historischer Verortung viel mit unserer Gegenwart zu tun hat…
©Tiroler Festspiele Erl, Foto: Xiomara Bender
Inspiriert von Puschkins Poem „Poltawa“ schuf Tschaikowski seine bedeutendste Oper „Mazeppa“, die trotz der Wiederentdeckung 2010 selten inszeniert wird. Die Geschichte von einem Kosaken, der vom Führer des Soronger Hetmanats, der heutigen Ukraine, und Freund des Zaren zum Freiheitskämpfer der Ukraine mutiert, aber besiegt wird, auf die Bühne zu bringen, könnte angesichts des russischen Angriffskrieges deplaziert wirken, was aber nicht der Fall ist, weil Regisseur Matthew Wild nicht auf die Historie fokussiert. Was hier passiert, geschieht überall, jederzeit und ist genau deshalb so packend.
Wie in „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ zerbricht eine große Liebe an gesellschafts-politischen Umständen. Mazeppa liebt Maria, die Tochter seines Freundes, die seine Enkelin sein könnte. Der Vater kündigt die Freundschaft auf. Rache, Verschwörung, Folter, Rebellion folgen. Tschaikowski machte daraus eine mitreißende Oper. Glühende Liebespassagen wechseln mit brachialen Gewaltszenen, hochdramatische Duette mit tief empfundenen, wuchtigen Chören, in denen sich die russische Seele entfaltet. Unter der musikalischen Leitung von Karsten Januschke wird das Werk sehr kontrastreich zwischen subtiler Lyrik und brachialer Dynamik hörbar. Dem künstlerischen Team um Regisseur Matthew Wild mit Herbert Murauer (Bühne, Kostüme), Bibi Abel (Video) gelingt eine hochdramatische Umsetzung.
©Tiroler Festspiele Erl, Foto: Xiomara Bender
Die Motivvielfalt der Ouvertüre visualisiert Wild bereits im wortlosen Prolog. Das distinguierte Abendessen der Familie Kotschubej wird gestört, als Mazeppa, verletzt mit seinen Schergen auftaucht, Kotschubej mit einem Bündel Banknoten abschmiert, damit er im Badezimmer verarztet wird und sich in Marias Kinderzimmer ausruhen kann.
Zehn Jahre später sind Maria und Mazeppa ein Liebespaar. Sie wollen heiraten. Der Vater verweigert die Zustimmung. Freundschaft wandelt sich in Hass und brutale Rache. Nach dem chinesischen Sprichwort „Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber“, gibt es nur Verlierer. Mit markanten Zitaten quer durch die Kulturen der Welt wird deutlich, des Menschen Feind ist der Mensch. „Nach einem harten Winter frisst ein Wolf auch andere Wölfe.“
Die Qualität der Inszenierung ist die expressive Reduktion der Mittel. Die kleine Bühne mitten auf dem großen Bühnenhintergrund erzählt wie unter einem Brennglas, warum was passiert. Die Elite bleibt unter sich, das Volk schaut zu. Die Menschen sind Spielfiguren für die Mächtigen. Für ein Fest soll getanzt werden, doch das Pas de deux, eine Hommage an Tschaikowkis Ballettliebe, wird von Mazeppas Schergen aggressiv gestört. Sofort das Messer gezückt verbreitet sich Gangstermilieu unserer Tage.
Durch die minimierte Guckkastenbühne mit ihren chargierenden Interieurs bleibt Raum für umrahmende Projektionen, die dezent aufleuchten und leitmotivisch hinableuchten ins psychische Unterbewusstsein Mazeppas, der sich durch die Liebe zu Maria wie der galoppierende Schimmelhengst im Video jung und dynamisch fühlt. Der russische Bariton Peter Solokov offeriert durch sein fulminantes Stimmvolumen nicht nur die rachsüchtige, brutale Seite Mazeppas. Seine Liebe zu Maria besingt Petr Sokolov so beseelt, dass er als Bösewicht längst identifiziert, trotzdem den ersten Szenenapplaus bekommt und durch sein schauspielerisches Talent in Mazeppas grausamen Anordnungen auch Gewissensbisse offeriert. Mit der „neuen Stimme“ der jungen südafrikanischen Sopranistin Nombulelo Yende behält Maria ihre kindliche Unschuld und jugendliche Euphorie. Völlig wehrlos gegenüber Mazeppas Verführungskünsten und überfordert von dessen Greueltaten verliert sie den Verstand, als sie den hingerichteten Vater findet, dessen Foltertortur der weißrussische Bass Alexander Roslavets erschütternd zum Ausdruck bringt. Die österreichische Mezzosopranistin Helene Feldbauer setzt als Marias Mutter in ihren wenigen Passagen eindrucksvolle Akzente und der russische Tenor Mikhail Pirogov schon als Kind in Maria verliebt bewegt zwischen Liebesschmerz und heroischer Selbstopferung als Verschwörungsbote durch seine lyrische Interpretationen. Romantisch melancholisch, aber auch wuchtig rebellierend schaffen Frauen- und Männerchor atmosphärische Stimmungsbilder. Mit „Mazeppa“ haben sich die Tiroler Festspiele Erl im diesjährigen Kultursommer in die erste Liga gespielt.