©Wilfried Hösl
Kühl, reduziert möbliert wirkt der 08/15 Bungalow im grellen Neonlicht sehr modern, nüchtern und trifft damit mitten in die Schuhschachtelexistenzen unserer Zeit. Das kreisende Haus gibt immer neue Einblicke, zerbricht, stapelt sich alptraummäßig auf, fügt sich wieder zusammen und verdeutlicht so psychischen Prozesse, die sich in Pauls Träumen abspielen (Bühne: Ralph Myers). Er kann den Tod seiner Frau Marie nicht verkraften, glaubt sie in der Tänzerin Marietta, die ihr äußerlich sehr ähnelt wieder gefunden zu haben, erliegt deren Erotik, verzweifelt an seinem Treuebruch und findet durch Mariettas kämpferische Natur den Weg in eine Zukunft ohne Marie, wobei offen bleibt, ob mit Marietta oder als Absturz in den Alkoholismus. Neu ist, dass der Tod von Pauls Frau, im Libretto nicht benannt, durch Stones Bildwelten eindeutig als Krebsleiden gezeigt wird. In dutzendfacher Multiplikation taucht Marie ohne Haare in den Alpträumen und Erinnerungen leitmotivisch auf.
Simon Stones typisches Regiekonzept über den voyeuristischen Blick in die Zimmer die Seelenlagen der Menschen offen zu legen, wird durch die emotionalisierenden Lichtstimmungen verstärkt, schrammt zuweilen durch Ralph Myers flackernde Lichtschienen scharf am Kitsch vorbei den Weg allzu plakativ in die surreale Traumwelten weisend.
©Wilfried Hösl
Doch Stones ausgefeilte, bewegungsintensive und erotische Personenregie, die schauspielerische und sängerische Qualität der Protagonisten und Kirill Petrenkos faszinierendes Dirigat entwickeln „Die tote Stadt“ nichtsdestoweniger zu einer mitreißend spannenden, sehr gut nachvollziehbaren Psycho- und Traumanalyse, die berührt, weil sie dem eigenen Lebenserfahrungen nicht so fremd ist.Petersen-Kaufmann-Petrenko sorgen für Synergieeffekte der besonderen Art.Marlis Petersen wandelt sich von der lebensfröhlichen, ziemlich alltäglichen Kleinkunsttänzerin zum glitzernden Energiezentrum. Ihre Turnschuhe betonen Verortung in der Realität und Styling unserer Tage. (Kostüme: Mel Page). Marlis Petersen fasziniert nicht nur Paul, sondern auch das Publikum. Hervorragend interpretiert sie die unterschiedlichen Facetten dieser Marietta in betörenden kraftvoller Höhe eine verführerische Sirene. Als emanzipierte Kämpferin und lebensbejahende junge Frau oszilliert sie zwischen kindlicher Aufgekratztheit und erotischer Anmache, verzweifelter Eifersucht und transzendentem Spiegelbild Maries.
Jonas Kaufmann bringt in rollenadäquater Spießigkeit als behäbiger Witwer mit Hosenträgern Pauls Seelenschmerz sehr authentisch und realistisch zwischen Sehnsucht und Selbstdisziplin, Hingabe und Selbstvorwürfen zur Wirkung. Wenn auch im letzten Akt ein, zwei Ermüdungserscheinungen hörbar werden, ist die sängerische Qualität außerordentlich. In den Nebenrollen lassen Jennifer Johnston als Brigitta und Andrzej Filończyk als Frank aufhorchen, ebenso der Kinder- und Männerchor, die als Prozessionskreis um das Haus angeordnet die religiöse Einengung sehr realistisch symbolisieren.
Nicht minder faszinierend ist das Dirigat von Kirill Petrenko, der diese komplexe Komposition in allen Nuancierungen aufleuchten lässt, von feinsten Harfenmelodien bis zu wuchtigen Schlagwerken, durchzogen von fanfarischen Blechbläsern, immer mit dem richtigen Gefühl für eine perfekte Dynamik zwischen Sänger und Orchester. Melodischer Pucchini und tänzerischer Strauss leuchten auf, wuchtige Moderne und atmosphärische Filmmusik. Ständig wird durch den Wechsel lyrischer Passagen mit apokalyptischem Inferno Pauls Seelenqual neu befeuert. Alles zusammen ergibt einen großartigen Opernabend.