©Michaela Schabel
Henzes Oratorium nimmt Bezug auf den durch zwei Zeitzeugen historisch belegten Untergang der Fregatte Medusa, die 1816 vom französischen König Ludwig XVIII. nach Senegal geschickt wurde, um die Herrschaft über die ehemalige Kolonie zu sichern. Die Offiziere retteten sich in Booten. Alle anderen blieben auf einem Floß zurück. Fast alle starben.
Henze lässt die Geschichte aus der Sicht des Charon erzählen, nicht als Grenzgänger zwischen Toten und Lebenden, sondern als Journalistin, die neutral alles zu berichten versucht und doch in Situationen gerät, Hilfe aus Angst selbst umzukommen zu verweigern. Jean-Charles’ Stimme wird zum Sprachrohr der von Not und Angst gebeutelten Menschen auf dem Floß, während der Tod bereits allgegenwärtig ist.
Das Faszinierende dieser Inszenierung ist die Symbiose von Musik und Inszenierung. Jeder Schlag ins Wasser verstärkt die musikalische Wirkung, jede klangliche Expression durchpulst und emotionalisiert das Geschehen. Henzes diametral konzipierte Instrumentierung unterstützt diese Theatralik. Das Reich der Toten, musikalisch bei den Streichern verortet, klingt elegisch, die Welt der Lebenden durch die Bläser wuchtig und gewaltsam. Entsprechend kontrastreich agieren die Stimmen, die trotz der Mikrophonverstärkung ihren natürlichen Glanz behalten. Gloria Rehm glitzert in der Rolle des Todes nicht nur optisch im Spotlight, sondern auch stimmlich. Mit extrem hohen Spitzentönen und abgründigen Tiefen betört sie als melancholische Verführerin die Lebenden aufzugeben, sich ihrem Schicksal zu fügen. Zugleich erschreckt sie als wütend in das Wasser einschlagende Naturgewalt. Das sind Szenen, die unter die Haut gehen.
Günter Papendells Partie als Jean-Charles ist weniger umfangreich, aber musikalisch sehr dramatisch angelegt, was durch seinen wuchtigen Bariton bestens zum Ausdruck kommt und in den finalen Sequenzen durch Henzes von 12 auf 6 verkürzte Tonreihen einen liedhaften Charakter entwickelt, der nicht auf politische Revolte zielt, sondern die letzten Hoffnungsschimmer in größter Not Ausdruck verleiht. Selbst die Sprechstimme lässt aufhorchen, die Henze sehr rhythmisiert konzipiert, was Mezzosopranistin Idunnu Münch gekonnt durch verschiedene Tonhöhen, akzentuierende Versmaße und skandierte Rhythmik umzusetzen weiß. Dem wuchtigen Orchester hält der mächtige Chor dagegen, dessen Aufschreie die Bedrängnis der Menschen offerieren. Die Instrumentalgruppen arbeiten die diametralen Klangstimmungen sehr präzise und transparent heraus, entwickeln einen extrem kontrastreichen dynamischen Spannungsbogen, in der Henzes freiere Handhabung der Zwölftonmusik für die Personen- und Situationscharakterisierung atmosphärisch hörbar wird.
Unter der Regie von Tobias Kratzer präsentiert sich das Geschehen verstärkt durch Lichteffekte und Schattenwirkungen in magischen Bildern, in denen das Floß zerlegt, Stege gebaut und wieder zerstört werden, Menschen um ihr Leben schwimmen und tot dahintreiben. Die Kinder, die Schwächsten, ertrinken zuerst. Die Erwachsenen kämpfen immer aggressiver um das Überleben, stoßen sich gegenseitig vom Floß und versuchen wieder hochzuklettern. Das Schlauchboot Charons nähert sich, ohne wirklich Hilfe zu bringen. Selbst die Erscheinung Jesu, ein origineller Regieeinfall, bleibt wirkungslos. Auch er geht zugrunde. „Jede Stunde zählt schwächer durch“. Die Szenerie auf dem Floß kehrt zurück zum Anfangsbild der Erstarrung. Umso mehr überrascht final noch ein Hauch von Hoffnung, als sich das Hallentor öffnet. Draußen steht ein Rettungswagen, dem die wenigen Überlebenden folgen. Diese Authentizität mit den tagesaktuellen Nachrichten aus Lampedusa berührt zutiefst.
Künstlerisches Team: Titus Engel (Musikalische Leitung), Tobias Kratzer (Inszenierung), Rainer Sellmaier (Bühnenbild, Kostüme) Marguerite Donlon (Choreografie), Julia Jordà Stoppelhaar (Dramadurgie, David Cavelius (Chöre), Kai-Uwe Jirka (Staats- und Domchor Berlin), Olaf Fresse (Licht), Holger Schwark (Tondesign)
Zu sehen ist „Das Floß der Medusa“ nur noch am 26., 28., 30. September und am 2./3. Oktober.