©resondando, 2024, Johannes J. Wallbrecher
Man hört und staunt. Ausgesprochen klangschön intoniert, subtil dynamisiert, rasant rhythmisiert zieht schon das erste Lied in seinen Bann, Robert Schumanns „Schnitter Tod“. Ausgesprochen ausgeklügelt ist…
das Programm, ungewöhnlich die Konzeption des Ensembles. Seicento vocale will Menschen verbinden, denen Vokalmusik auf hohem Niveau in historisch-informierter kleiner Besetzung am Herzen liegt. Seit 2016 realisierte Seicento vocale frühbarocke Konzerte in flexibler Besetzung im Raum Westfalen-Lippe und darüber hinaus.
Jetzt überrascht das 25-köpfige Vokalensemble unter dem Dirigat von Jan Croonenbroeck und Cornelia Glassl am Klavier mit einer beeindruckenden Debüt-CD über romantische und moderne Kompositionen vor dem Hintergrund barocker Dichtung und deren Vanitasstimmung infolge des Dreißigjährigen Krieges. Die CD spannt den Bogen vom barocken Totentanz bis zur himmlischen Vision in Johannes Brahms „Dem dunkeln Schoß der heiligen Erde“, sängerisch in allen vier Stimmlagen sehr gut ausbalanciert und in tiefen Tonlagen von berührender Abgründigkeit.
Dazwischen entfaltet sich nach Brahms „Altdeutschem Kampflied“ Viktor Ullmanns „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, seine letzte Komposition, die er kurz vor seiner Ermordung 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt komponierte, geprägt vom soldatischen Heldentum und Memento Mori. In der Fassung von Jan Croonenbroeck für Chor und Klavier wird das Werk spannend wie ein musiktheatralisches Hörspiel und über das Vanitas-Motiv zum roten Faden der CD, das auch in Ernst Kreneks „Kantate von der Vergänglichkeit des Irdischen“ und Max Regers Requiem „Seele, vergiss sie nicht“ anklingt und gleichzeitig , weiterentwickelt wird, indem „Friedensrufe“ nach himmlischer Transzendenz aufleuchten.
Dieses tiefgründige und facettenreiche Programm gibt dem Ensemble Seicento vocale Raum die eigene Klangschönheit zu entfalten. Die einzelnen Werke werden sehr differenziert interpretiert und durch deren synergetische Wirkung ergibt sich ein neues Narrativ, die „Friedensrufe“ aus der Verzweiflung des Todes, wodurch sich ganz automatisch der Transfer auf die traumatisierenden Kriegswirren der Gegenwart ergibt.
Die melodramatische Handlung der „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ verstärkt Jan Croonenbroeck, indem er die Erzählerstimme auf verschiedene Stimmen verteilt. Die Rezitative teilweise sehr schlicht wie aus dem Volk gesprochen wandeln poetische Situationen durch chorisch rhythmisiertes Sprechen, über expressive Schreie bis zu einem irrlichternden Miteinander, unterlegt mit unerbittlich hämmernden Klavierschlägen, in angstgebeutelte Grenzsituationen, die sich erst in Brahms „In stiller Nacht“ beruhigen.
Das Highlight ist Ernst Kreneks hochkomplexe, titelgebende „Kantate von der Vergänglichkeit des Irdischen“ (1932). Die Barockgedichte von Andreas Gryphius, Martin Opitz und Johann Klaj kombiniert mit avantgardistischer Musik schaffen durch A-cappella-Chöre und Cornelia Samuelis hochdramatischen Sopran mit extremen Tonsprüngen, nicht zuletzt durch die Verdichtung expressiver Klangebenen und wuchtiger Klavierakkorde dystope Kontraste zwischen melancholischer Schwermut und sakraler Gläubigkeit, die in einem wuchtig verzweifelten Forte „zu dir“. Nahlos schließen sich die düsteren Tiefen Regers Requiem an, aus dem Henriette Göddes glühende Altstimme als Hoffnungsstrahl aufsteigt. Grandios! Der innigste Moment der CD. 1915 als Requiem für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges komponiert steigert sich Regers „Seele, vergiß sie nicht“ in ein orkanisches Forte „vergiß nicht die Toten!“. Immer wieder steigt dieser moralische Imperativ gegen das Vergessen hinunter in tiefsten Lagen, um die Toten durch die Erinnerung der Lebenden ins Bewusstsein zurückzuholen, während der Chor im accellerierenden Forte den Sturm, der die Toten durch die Wüste treibt, zum Ausdruck bringt. Umwerfend! Brahms „Dem dunklen Schoß der heiligen Erde“ wird final ruhig in himmlische Höhen entschwebend zum hoffnungsvollen „Friedensruf“.
Aus der Vergänglichkeit des Irdischen, vor sechs Jahren bereits geplant könnte der Friedensappell dieser CD nicht aktueller und berührender sein. Dass die CD vom unabhängigen Label „resonando“ publiziert wurde, ist bereits ein Ritterschlag, da das Label, vor 10 Jahren gegründet mit Fokus „auf großartige musikalische Meisterwerke“, insbesondere deren künstlerische Konzepte, für Qualität bürgt und durch den Direktvertrieb der höchstmögliche Anteil am Umsatz an die KünstlerInnen geht.
„Friedensrufe“ vom Ensemble Seicento vocale unter der musikalischen Leitung von Jan Croonenbroeck (Dirigent) und Alexander Toepper, Label resonando