©Hoffmann und Campe Verlag
In jungen Jahren mietete sich Rebecca Solnit als einzige weiße Frau in einem schwarzen Viertel in San Francisco ein und lernte Schritt für Schritt das Schweigen zu brechen, eine Sprache für das Erlebte zu finden. Diesen Weg zu ihrem neuen Ich beschreibt sie in acht präzis linear-logisch erzählten Kapiteln, die sich in einzelne essayistische Sequenzen unterteilt sehr kurzweilig und konzentriert lesen.
Das kleine Zimmer im schwarzen Ghetto wurde zum „Spiegelhaus“ ihrer Seele, wo sie zwischen „Nebelhorn und Gospel“, Meer und schwarzer Kultur ihr neues Ich erschuf. Es war für sie ein „Leben wie im Kriegszustand“. Statt bei männlichen Belästigungen in den Boden zu schauen, sich unsichtbar machen zu wollen, begann sie ihre Erfahrungen vor dem Hintergrund ihrer misogynen Umgebung zu reflektieren.
Bei ihren journalistischen Recherchen über Menschen, die „Auf der Kante“ lebten, fand sie Vorbilder für ganz andere Lebensmuster und entwickelte Vertrauen in sich selbst. Sie begann die männlichen Revierkämpfe zu durchblicken und sich zu orten, wo sie steht, welche Reaktion angebracht ist, welche nicht.
Durch ihre autobiografischen Erinnerungen vermittelt sie sehr authentisch immer wieder den Prozess zum „Wrack hinterunter(zu)tauchen“, den Männer mit ihren Taxierungen und Normvorstellungen verursachen, ohne dass sie in irgendeiner Weise ihre Unzulänglichkeit hinterfragten. Dabei lässt Rebecca Solnit sehr viel kulturhistorisches Wissen einfließen. Schon die griechische Mythologie ist voller Vergewaltigungen. Quer durch die Epochen sind Frauen Geliebte, Musen, aber immer nur in orbitaler Position, um den Mann kreisend, nie selbst eigenständige Sterne. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren die üblichen Begriffe für Menschheit „man“ und „manhood“ allein auf Männer bezogen. Herzinfarkte wurden bei Männern untersucht, nicht bei Frauen, was zu völlig falschen Statistiken führte. Crash-Test-Dummys waren männlichen Körpern nachgebildet. Öffentliches Leben war Sache der Männer. Prügeln von Ehefrauen galt als Privatsache. Bei Orts- und Straßennamen fehlten Frauen.
Rebecca Solnit lässt den Leser miterleben, wie Bücher ihr Denken formten, sie die Frauen aus den Augen der Männer zu beurteilen begann. Lesen war keine Wirklichkeitsflucht, sondern Aufenthaltsort, die geistig befeuerten, die eigene vorgestellte Existenz zu erweitern. Allzuoft werden Frauen zur Dekoration, Trophäe, zum Prestigeobjekt oder zur Zuchtstute degradiert.
In der Kunst findet Rebecca Solnit Inspiration und Kontakte, beim Schreiben ihren Weg zu einem freien Leben ohne Angestelltenverhältnis und Chef, aber viel Arbeit. Von Künstlern lernt sie, dass Kunst nur aus einem kulturellen Background heraus entstehen kann und dann vom Rande ins Zentrum einer Gesellschaft gelangt. Beim Recherchieren entdeckt sie die Muster, aus denen sich Soziogramme und Expertise herausbilden. Gerade das Schreiben von historischen Sachbüchern ermöglichte es, was wahr und richtig ist darzulegen.
Im Verlagswesen erlebte sie nur allzu oft, wie ihre Bücher fehlerhaft und nachrangig in einer Welt von Männern gemanaget wurden. Dagegen eröffnete sich ihr der Zusammenhalt queerer Menschen als stabileres Fundament als zuweilen das des traditionellen Familienmodells.
Im letzten Kapitel „Hörbarkeit, Glaubwürdigkeit, Geltung“ eröffnet Rebecca Solnit durch die Recherchen über die Atomversuche in der Wüste Nevada den Blick auf den Genozid der indigenen Bevölkerung. Sie erlebt, wie engagiertes Ansprechen von Problemen allmählich den Blick auf festgefügte Meinungen ändert, sich positive Entwicklungen ergeben. Es waren persönlich ihre „goldenen Jahre“. Auf ihren Campingfahrten durch Utah, Colorado, Neu-Mexico und Nevada formt sie sich zu der Frau, die sie sein will, verwurzelt in der Landschaft mit vielen FreundInnen und zur politischen Autorin mit Schwerpunkt Gewalt an Frauen. Nur wenn Frauen ihre Stimme erheben, man ihnen Glauben schenkt und sie als Person etwas gelten, ohne permanent in Frage gestellt zu werden, wird sich ihre Position ändern, was die #MeToo-Debatte beweist.
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Rebecca Solnit, 1961 als Tochter einer liberalen irischen Katholikin und eines russischen Juden geboren, wuchs in einem konservativen, manchmal antisemitischen Viertel und gewaltbereiten Umfeld auf. Als US-amerikanische Journalistin, Essayistin, Autorin, Historikerin und Aktivistin wurde sie zur Stimme der zweiten Welle des Feminismus. Seit den 1980er Jahren engagierte sie sich für Umweltschutz und Menschenrechte, insbesondere für die indigene Bevölkerung in Nevada und Kalifornien, seit 2000 positionierte sie sich gegen die Kriege der USA unter George W. Bush. Ihr Lebensthema blieb die Gewalt gegenüber Frauen.
Rebecca Solnit – „Unziemliches Verhalten – Wie ich Feministin wurde“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020, 270 S.