©Springer Fachmedien, Wiesbaden 2024
Vor Gericht hat die Aussage eines Menschen immer noch die größte Bedeutung. 95% aller Straftaten beruhen auf Zeugenaussagen. Wie aber gelingt es, die Wahrheit…
von Lügen und Irrtümern zu unterscheiden? „Erzähl mir alles!“ titelt Michael Saller appellativ, freundlich, doch bestimmt. Genau das erwartet er von einem professionellen Vorgehen, weshalb er den ganzen Kontext übersichtlich und einfach erklärt, die Vernehmungsarten, wie man Lügen durch professionelle Fragetechniken erkennt und schließlich, allerdings nur als finale Checkliste, wie man diese Fragetechniken effektiv im Alltag anwenden kann.
Als Grundsatz gilt, solange sich für eine Aussage kein Wahrheitsbeweis finden lässt, ist sie als neutral zu werten. Selbst deklarierte Wahrheiten sind nicht immer wahr, was Saller an den fragwürdigen Urteilen über Kachelmann und Mollath veranschaulicht, die in zweiter Instanz revidiert wurden.
Durch die Gliederung in „Vernehmung nach der Deutschen Strafprozessordnung“, „Verschiedene Vernehmungsmethoden“, „Die Lüge“, „Das Wahrnehmungsmodell“ ergeben sich zwar etliche Wiederholungsstrukturen, wodurch sich allerdings die wesentlichen Aspekte auch sehr gut einprägen, zumal Saller durch seine Erfahrungen bei den Ermittlungen gegen Korruption bei Kartellbildung sehr anschaulich und exemplarisch formuliert.
Um die Wahrheit zu finden, wird genau zwischen Beschuldigten-, Zeugenvernehmungen und freien Gesprächen unterschieden, wobei der Gesprächsverlauf normiert ist und immer nur eine Person befragt werden darf, um Einschüchterungen und Manipulationen durch andere Personen zu vermeiden.
Dem Kontaktgespräch, in dem eine konstruktive Stimmung aufgebaut werden soll, folgt die Bekanntgabe des Grundes, die Belehrung über die Verantwortlichkeiten, Pflichten und rechtlichen Möglichkeiten. Bei der Vernehmung der Person werden die Personalien aufgenommen, um den Vernommenen besser zu verstehen und sein Erinnerungspotential einschätzen zu können. Seine Beziehung zum Opfer gibt u. U. Einblick in mögliche Motive. Im „freien Bericht“ soll der Zeuge ohne Einengung durch Fragen seine Sicht der Dinge schildern, sich „warmreden“, wobei oft wichtige Details angesprochen werden. Im Anschluss folgt das „Verhör“, in dem genau nachgefragt wird, was bislang nur angedeutet oder ganz weggelassen wurde. Im Nachgespräch wird geklärt, wie es weitergeht, wobei gerade die offenen Gespräche zu Beginn und am Ende dazu dienen, Vertrauen aufzubauen und über der eigentlichen Sachverhalt hinaus wichtige Informationen zu bekommen. Foltern durch Schlafentzug, Hunger, Angst, Isolation, Waterboarding ist in Deutschland im Gegensatz zu den USA und in autokratisch regierten Ländern als Vernehmungstechnik nicht erlaubt.
Das größte Problem bei der Wahrheitsfindung sind die Lügen, mit denen sich Saller sehr ausführlich beschäftigt. „Lügen ist eine kognitive Meisterleistung“. Sie zu entlarven braucht es viel Erfahrung, Empathie, eine gute Beobachtungsgabe und eine professionelle Fragetechnik. Beim Lügen wird nicht wie bei Pinocchio die Nase länger.
Es gibt keine Lügenmerkmale, nur Wahrheitsmerkmale. Erlebte Geschichten werden wesentlich detaillierter, spontaner und sprunghafter als Lügen erzählt, weil sich Erlebtes besser einprägt. Lügner können dagegen ihre Version nach einiger Zeit nicht mehr so detailgetreu wiederholen und sind durch entsprechende Fragestellungen zu verunsichern. LügnerInnen behaupten außerdem oft nie zu lügen, wobei 99 % der Bevölkerung zugibt ab und zu zu lügen. LügnerInnen fordern von der Gegenseite Beweise und nehmen, wenn man Teilaspekte ihrer Aussage widerlegt, diese einfach zurück. Lügen fällt umso leichter, je weniger persönliche Beziehungen bestehen, weshalb die freien Gespräche, in denen ein Kontakt aufgebaut wird, sehr wichtig ist.
Lügen erkennt man auch in der Mikromimik als Ausdruck für Schuld, Angst und Schadenfreude nicht sicher. Aber unter dem Druck komplizierter Fragen ändern sich oft die Körpersprache, die Bewegungen der Hände, die Pausenlänge, das Wiederholen von Sätzen. Entscheidend ist aber nicht die Körpersprache, sondern der Gesamteindruck.
Hilfsmittel in der Justiz sind der Lügendetektor und die Magnetresonanztomographie. Durch die besondere Technik von Kontrollfragen, die bewusst zum Lügen provozieren, steigern sich Herzfrequenz und neurale Gehirntätigkeit.
Saller spricht auch immer wieder die Problematik von Irrtümern an. Er erklärt den „Pygmalioneffekt“, der auftritt, wenn Beschuldigte lügen, um es dem Gegenüber recht zu machen, und der Halo-Effekt hinterfragt, inwieweit sich Ermittler von bestimmten Äußerlichkeiten, manipulieren lassen, wenn beispielsweiss von guter Kleidung, auf Entscheidungsbefugnis geschlussfolgert wird. Durch inkompetente Fragestellungen und Fotografien von Ermittlern und Therapeuten wurden bei sexuellen Delikten vor allem Kinder zuweilen so beeinflusst, dass sie glaubten sexuelle Übergriffe erlebt zu haben, die so nie stattfanden.
Eine hilfreiche Methode LügnerInnen zu entlarven, ist es ihre Version in umgekehrter Reihenfolge oder aus der Perspektive einer anderen Person erzählen zu lassen oder eine von Sallers „Killerfragen“ zu stellen. „Wer könnte Ihrer Ansicht nach der Täter sein?“
Final stellt Saller „30 Tipps für eine effizientere Gesprächsführung“ in loser Reihenfolge noch einmal auf und überlässt es den LeserInnen, diese für sich zu strukturieren. „Erzähl mir alles!“ erhellt, was einen erwartet, wenn man selbst als Zeuge vorgeladen wird, und gibt Hilfestellungen, LügnerInnen im eigenen Lebensumfeld zu entdecken.
Prof. Dr. Michael Saller ist Anwalt, Ermittler beim Bundeskartellamt und als Teamleiter bei der OECD. Er berät in allen Bereichen des deutschen und europäischen Kartellrechts und in Fragen des Gewerblichen Rechtsschutzes. Er ist ordentlicher Professor für Wirtschaftsrecht an der Ernst-Abbe-University of Applied Science in Jena und Lehrbeauftragter an der Frankfurt School of Finance & Management.
Michael Saller „Erzähl mir alles! Mit den Vernehmungsmethoden der Profis effektiver kommunizieren und verhandeln“, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2024, 174 S.