"Kultur macht glücklich"


Martin Andree/Timo Thomsen „Atlas der digitalen Welt“ – Aufmerksamkeit als wichtigste Ressource

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Martin Andree/Timo Thomsen „Atlas der digitalen Welt“ – Aufmerksamkeit als wichtigste Ressource

©Campus Verlag

Anhand 16000 Probanden wurden 131993 Domains vermessen, analysiert, übersichtlich kartografiert und gut verständlich interpretiert. 

Längst hat sich die ursprüngliche Robin-Hood-Mentalität bezüglich des Internets, den Reichen nehmen und den Armen geben, verflüchtigt. Die Befreiung von hierarchischen Wissensstrukturen,  Wissen für alle und Rückkoppelung hat sich als gigantische Manipulations- und Shoppingindustrie weniger Globalplayer verselbständigt. Statt Demokratisierung entstand eine digitale Label-Aristokratie, die gleichzeitig die Grundlagen der Demokratie völlig verändert. Manche Ergebnisse sind zwar vage bekannt, überraschen im Detail.

Die digitalen Giganten

Über Kreisdiagramme werden die mächtigsten Brands deutlich, first of all die Giganten, YouTube, Apple, Facebook, WhatsApp und Google, Amazon und Ebay. Sie erzielen über 70 % der Wertabschöpfung, noch 13 mehr oder weniger wichtige Domains den Rest. Weitere 16 000 000 Top-Level-Domains, darunter die großen Labels der Konsumgüterindustrie, spielen überhaupt keine Rolle. 

Interessant ist, wie in diesem Digital-Kosmos erstmals systematisch das User-Verhalten professionell nach den Parametern von Reichweite, Verweildauer und Altersstrukturen unter Berücksichtigung der Endmedien dargestellt wird. 

Jüngere User werden bereits mit Smartphones sozialisiert, während bei älteren Menschen der Desktop das wichtigste Endgerät ist. Grundsätzlich benutzen User Desktops für verwaltende, büromäßige Arbeiten, Smartphones für Zwischendurch, v. a.  für Kurznachrichten im lässigen Kurzstil mit Emojis, Tablets vorwiegend zum entspannten Konsum von Unterhaltung.

Die unterschiedlichen Inhalte, die Mann oder Frau konsumieren, sind nicht neu. Männer informieren sich mehr, Frauen nutzen die Online-Zeit vorwiegend für die Kommunikation.

Traditionelle Leseformen verschwinden 

Die Analysen zur Transformation der Offline-Inhalte in die Online-Welt geben zu denken. Bei Zeitungen online erweitert sich dabei durchaus die Reichweite, doch nicht die Nutzungsintensität. Beim Zeitungslesen vertieft sich ein Abonnent viele Stunden pro Monat in die Zeitung, beim Online-Lesen nur wenige Momente. Störungsfreies, konzentriertes, auf die Lektüre fokussiertes Lesen wird irgendwann genauso verschwinden wie Leser, die diese Leseformen der Gutenberg-Galaxis  noch beherrschen. 

Wie lange User sich auf einer Seite, in einem Programm aufhalten, hängt von den Endgeräten ab. Auf Desktops ist die Verweildauer deutlich länger als auf Smartphones, deren Nutzung viel fragmentierter, unruhiger und schneller ist. Inzwischen werden Web-Angebote werden von allen Bevölkerungsgruppen genutzt, selbst Computerspiele. 

Das sehr Ressourcen verschwenderische Streaming expandiert auf Kosten der einstigen Offline-Dienste. Mit über 90% der Gesamtnutzungsdauer sind die Media-on-Demand-Angebote, wie YouTube, Spotify und Netflix sie anbieten, am bedeutendsten. Nur 10 % nehmen Internetfernsehen, Mediatheken und Webradios ein. 

Am meisten boomen die Computerspiele. Bei einer Googlesuche von „Gamings“ im April 2020 ergaben 148 Millionen Treffer. Gamings haben bereits einen größeren Umsatz als die Hollywood-Filmindustrie, sind allerdings schwer zu vermessen, weil sie in der Regel downgeloadet werden. 

Plattformen als digitales Universum

Amazon hat sich durch seine Produktdetails zum Content-Universum entwickelt, agiert inzwischen auch bereits als Suchmaschine in Sachen Online-Shopping und berät seine Anbieter auf verschiedensten Ebenen, beherbergt sogar Konkurrenten wie Douglas und Otto auf seiner Webseite, egal ob Warenverkauf oder Marketing-Gebühren, Amazon verdient immer.  

Aushöhlung der Demokratie

Am beunruhigendsten sind die Analysen der Social Media. Ohne Bezahlung lassen hier die Digitalgiganten die User für sich arbeiten. Sie produzieren wie beispielsweise in Facebook durch ihre Texte und Fotos selbst das Programm, geben ohne Entschädigung ihre persönlichen Daten preis, tragen das System, von dem sie Imagegewinn erwarten durch ihre Kommentare, Likes, Emojis, Teilungen und konsumieren die dazwischengeschaltete Werbung. Die für die Demokratie grundlegende Unterscheidung von Öffentlichkeit und privater Sphäre wird vollkommen unterhöhlt. Shitstorms und Fake News, oftmals „von findigen Autoren als Clickbait“ erfunden, die mit abgefahrenen Behauptungen Interesse wecken, sich ganz individuellen Bevölkerungsgruppen zuwenden, um noch mehr Werbemaßnahmen einzufahren und gesellschaftspolitische Prozesse durch Cybermobbing und Populismus zu manipulieren, wobei die einzelnen Beiträge extrem stark zwischen Privatheit und Öffentlichkeit changieren. Mit dieser volatil privaten Öffentlichkeit werden die westlichen Demokratien grundlegend neu formatiert, wie Trumps Wahlkampf dokumentierte.

Veränderungen gibt es in den einzelnen Plattformen. Facebook nimmt durch ältere User um 6 % zu, aber die jungen User verbringen deutlich weniger Zeit auf Facebook, wodurch Facebook insgesamt in einem Jahr pro User 30 Minuten Nutzungsdauer im Monat verlor und seinen Konkurrenten WhatsApp für 14 Milliarden aufkaufte. Es gilt die Devise, entweder man akquiriert oder man riskiert auf einem speziellen Segment in eine marginale Position zu fallen. Extreme Monopolisierung ist die Konsequenz.

Die Zeit der Originale ist vorbei 

Instagram kam just in dem Moment auf den Markt, als die analogen Kameras verschrottet wurden, und machte Fotobearbeitung zur Selbstverständlichkeit. Die Zeit der Originale ist vorbei. Es gibt nur noch Datenmengen, mit denen man durch Filter und Linsen beliebig eine authentische Aura kreieren kann. 

Für die Autoren war YubeTube am schwierigsten zu fassen, da sich diese Plattform am meisten verändert hat. Aus dem ursprünglichen Appell „Du sendest“ entstanden zahlreiche Urheberrechtsverletzungen, woraus sich eine heftige Rechtsdiskussion entwickelte, die zur die Entfernung unerlaubt eingestellter Videos führte. Gleichzeitig weitete sich YouTube als kommerzielle on-Demand-Konkurrenz für Netflix und Co. Trotz des gigantischen Umfangs wächst YouTube immer noch. Dass die Videos vorwiegend auf Tablets angeschaut werden, zeugt von einem entspannten Unterhaltungskonsum.

Kreativität nach vorgefertigten Formaten

Junge disruptive Angebote wie Pinterest, Snapchat und TikTok faszinieren User durch vorgefertigte Formate und Features, die durch Nachahmung serielle Kreativität immer neue Remixes ermöglichen. TikTok gilt heute als Blaupause, wie Social-Media in 10 bis 20 Jahren verwendet werden. 

Die Karriere-Netzwerke Xing und Linkedin sind inzwischen auf dem heutigen Arbeitsmarkt nachweislich unverzichtbar geworden. 

Ob die Höchstphase von Social Media schon überschritten ist, bleibt offen. Aber mit der Kommerzialisierung dieser Plattformen verlieren sie für den User an Reiz. 

Und immer noch regiert AIDA

In einem letzten Kapitel stellen die Autoren die vier Giganten noch einmal heraus. Egal ob Facebook-Konzern mit Instagram und Whatsapp, der Alphabet-Konzern mit Google und YouTube“, Apple- und Amazon-Konzern, alle entwickeln ihre Geschäftsfelder aus ihrer Kernkompetenz heraus, wobei über Media-on-Demand, Social Media, Suche und E-Commerce  die User größtenteils im Konzernumfeld nach dem Conversion-Tunnel-Prinzip, alias AIDA-Werbeformel, Awareness, Interest, Desire, Action, konzernintern weitergeleitet werden und eigendynamische Wachstumsprozesse initiieren.

Die Medien erzeugen unsere Welt

Angesichts dieser Analysen überrascht das deprimierende Fazit der Autoren nicht. Die Medien beobachten nicht nur die Welt, sie erzeugen unsere Welt, in der der Zugang zu den Daten immer mehr entschwindet. Daten werden nicht mehr durch Befragungen oder neutrale Stichproben erstellt, sondern von den Globalplayern durch die digitalen Nutzungswerte regeneriert, die sie zwar der Wirtschaft, aber selten der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Renommierte Forscher haben nur einen Bruchteil der Daten der Media-Giganten zur Verfügung. Nicht die Universitäten, sondern Digitalunternehmen werden künftig die Welt erklären. Deshalb richtet sich der Appell der Autoren an die Digitalunternehmen, ihre Daten der Wissenschaft in anonymisierter Form zur Verfügung zu stellen.

Martin Andree, Timo Thomson: Atlas der digitalen Welt, campus Verlag, Frankfurt/New York, 2020, 270 S.