"Kultur macht glücklich"


Lutz Karnauchow, Petra Thees „Alt, fit, selbstbestimmt“ – von der Kunst im Alter einen Entwicklungsoptimismus zu entwickeln

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Lutz Karnauchow, Petra Thees „Alt, fit, selbstbestimmt“ – von der Kunst im Alter einen Entwicklungsoptimismus zu entwickeln

©W. Kohlhammer Verlag

Was verbinden wir mit „Alter“? Hoffnung, Freude, Glück wohl…

eher selten. Das Alter wird gesamtgesellschaftlich vorwiegend negativ beschrieben. Ganz anders argumentiert das Autorenteam Lutz Karnauchow und Dr. Petra Thees. Beide gehen in ihrem Buch „Alt, fit, selbstbestimmt“ von einem positiven Entwicklungspotential jenseits der 60 aus, ganz konträr zu alten bleichen Alten, wie sie schon vor 500 Jahren Lucas Cranach in seinem Gemälde „Der Jungbrunnen“ malte. Für sie ist „Alter“ nur ein gesellschaftliches Konstrukt, das Menschen nach der Erwerbsarbeit auf körperlichen und geistigen Verfall reduziert. 

Je geringer finanzielle Ressourcen und niedriger Bildungsstand sind, desto negativer fällt die Bewertung des Alters aus. Aus Angst vor Krankheit, sozialem Abstieg, Pflege, Vereinsamung und Tod fürchten sich die Menschen vor dem Alter und ein Denken und nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung verstärken sich in der Regel diese Ängste. Dazu belastet das Wissen, dass Muskeln und Neuronen abgebaut werden, weshalb viele Menschen auf Schonhaltung umschalten. 

Besser wäre es beides zu trainieren. „Ein schlechter Zustand wird nicht durch Fürsorge besser“, sondern durch körperliche und geistige Bewegung. 

Es kommt nicht so sehr auf die Quantität des Pflegepersonals als auf die Qualität. Dafür fehlt das richtige Modell. Pflegeinstitutionen orientieren sich in Deutschland immer noch am AEDL-Model von Monika Krohwinkel von 1984 

das auf dem Maslowschen Bedürfnismodell beruht. Es treibt den alten Menschen immer mehr in die Passivität. Das Konzept beschränkt sich auf „Satt, sauber, trocken“, begleitet von einem abwertenden Sprachaufbau. Muskelaufbau und geistige Anregung spielen keinerlei Rolle. Liegen alte Menschen zehn Tage im Bett  bauen sie bereits, 1,5 Kilogramm der Muskelmasse ab. Die Pflege hilft nicht, sondern macht Menschen kränker und abhängiger.

„80 ist das neue 60“ titeln indes Magazine und Persönlichkeiten aus dem Entertainment und der Politik beweisen, wie aktiv und agil man im Alter sein. Mode-Ikone Iris Apfel wurde erst mit 80 berühmt. Das liegt nicht nur an Make-up-Artists, Stylisten und Schönheitsoperationen, sondern in erster Linie an der inneren Einstellung. So leben zu wollen wie vor 20 Jahren führte bei wissenschaftlichen Projekten zu enormen Erfolgen. Wer sich selbst positiv programmiert, steigert Widerstandsfähigkeit, Hoffnung, Neugier und Optimismus. Der Glaube an sich selbst wirkt wie ein Placebo. 

Schwierig wird die Altersbewältigung vor allem durch den Renteneintriitt. Plötzlich ist man unnützer Kostgänger. Dabei  ist die „golden generation“ konsumtechnisch sehr wichtig, sofern sie liquide ist. Die Kreuzfahrtindustrie wäre ohne sie nicht möglich. 

Zufriedenheit und Glück im Alter hängen wesentlich vom Bildungsstand, der finanziellen Sicherung und medizinischen Versorgung ab. Alte Menschen sind realistischer und resilienter und zufriedener, weil sie das Leben weniger unter den körperlichen Mängeln sehen, sondern sich intellektuell mit ihrer Lebenssituation auseinandersetzen. 

In diesem Kontext verweisen Karnauchow und Thees auf die im Grunde sehr einfachen Power-Merkmale der über 100-jährigen Menschen in den „blue zones“ in Ikaria (Griechenland), Ogliastra (Sardinien), Okinawa (Japan), Loman Linda (Kalifornien) und auf der Halbinsel Nicoya (Costa Rica). Wichtig sind viel Bewegung, ein Lebensziel haben, wenig Stress, nicht zu viel und vorwiegend vegetarisch essen, wenig Alkohol trinken und einer Gemeinschaft angehören, sich um die Familie kümmern und in einem gesundheitsförderlichen sozialen Umfeld leben. 

Der Trend zur Longevity geht einen wesentlichen Schritt weiter und versucht die Telomere, die Schutzkappen auf unseren Chromosomen gegen das im Alter verstärkte Ausfransen zu schützen. Kombiniert mit Krafttraining bzw. regelmäßiger Bewegung, gesunder Ernährung, emotionaler Gesundheit und Schlaf erhofft man sich in der Zukunft Langlebigkeit.

Und wenn man wirklich erkrankt oder einen Unfall hat? Dann hilft die Reha, die sich von Thomas Manns Liegekuren im „Zauberberg“ inzwischen in eine anspruchsvolle Bewegungstherapie verwandelt hat. Muskelaufbau stoppt den Abbauprozess und das Risiko hinzufallen. Myokine, entzündungshemmende Botenstoffe, stellt der Körper selbst her und sie wirken wie eine Apotheke. Einer davon, Irisin, verwandelt weiße in braune Fettzellen, um die Energie zu verbrennen. Andere steuern Entzündungen oder das Wachstum von Nervenzellen. Auch bei den Gehirnzellen gilt „Use it or lose it“. Um etwas meisterlich zu können, braucht man 10000 Stunden. Nervenzellen wachsen nach, aber nur bei adäquater Stimulation z. B. durch Kraft- und Ausdauersportarten. Bei wenig Schlaf und chronischem Stress werden Neuronen abgebaut. Selbst bei Depressionen werden durch Bewegungstraining beachtliche Erfolge erzielt. Wichtig sind Disziplin und eine intrinsische Motivation, die Bewegung als Flow erleben lässt. Ritualisierte Trainings erleichtern den Alltag und schützen vor Frustrationen.

Alter macht nicht dumm, sondern weise, weil man mehr Weitsicht, Wissen, Erfahrung, Gelassenheit und ein sicheres Urteilsvermögen hat. Im Alter ist man langsamer als in der Jugend, aber dafür vorsichtiger und reflektierter. 

Etwa die zweite Hälfte des Buches beschäftigt sich mit dem neuen Pflegekonzept „domino-coaching“, das wissenschaftlich begleitet bessere Ergebnisse erzielt, ohne dass es teuerer ist. Es versorgt nicht nur, sondern  es fördert. Ziel ist es zu fördern nicht nur zu versorgen. 24 Jahre existiert das Modell. Es wurde vielfach ausgezeichnet, aber bislang in der Praxis ignoriert und kam erst ins Gespräch, als 2023 das Konkurrenzunternehmen „SGB Reha“ der AOK Rheinland/Hamburg die Diskussion belebte. 

Final werden die Eckpunkte des domino-coaching genau beschrieben, wobei die Ausbildung und verschiedenen Coaching-Techniken vom Spiegeln, Paraphrasieren über die Möglichkeiten der verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zum Vier-Ohren-Modell von Friedemann Schulz von Thun genau erklärt werden.

Der Kernpunkt ist, dass Pflege durch Coaching ersetzt wird, um den Patienten entwicklungsfähig zu fördern. Emotionale Zuwendung und Wertschätzung sind dabei die wichtigsten Schlüssel zur Heilung. Gesundheit und Krankheit werden systemisch in ihrer Wechselwirkung von Körper, Seele, Geist, sozialen Beziehungen und äußeren Lebensbedingungen gesehen. Der domino-world Club in Berlin-Tegel setzt das Konzept bereits um. Es ist ein Leuchtturmprojekt. Mit den Patienten werden Schwächen – Stärken Profil erstellt und Entwicklungsziele vereinbart, damit sie ihr „altes“ Leben wieder selbstständig aufnehmen können. 

Das Autorenteam schreibt sehr flott, mit markanten Formulierungen recherchiert vielseitig, stellt vieles in Frage und will das Alter neu denken, ihm eine neue Aura verleihen, den Rentnerstaat Deutschland in ein Silver Aged Land verwandeln. „Das Alter ist kein Massaker, sondern eine Kunst“. 

„Alt, fit, selbstbestimmt“ ist ein hoffnungsvoller Denkansatz, aber mit fast 4000 € Eigenleistung pro Monat für die Mehrheit der Menschen kaum finanzierbar. Das Buch wirkt gegen Ende immer mehr wie eine Werbebroschüre.

Lutz Karnauchow (*1953) studierte ab 1972 Psychologie an der Freien Universität Berlin. 1979 machte er sein Diplom und entdeckte die Altenpflege für sich. 1982 gründete er domino-world™. Daneben führte er mehrere Jahre lang eine Praxis für systemische Familientherapie und Gesprächspsychotherapie. 2020 übergab er sein Vorstandsamt bei domino-world™ an Dr. Petra Thees und wurde Vorstand der neu gegründeten domino-coaching Stiftung.

Inzwischen gibt es 13 Filialen. 850 Mitarbeiterinnen betreuen 2500 PatientInnen „Unser Altersbild und Umgang mit alten Menschen in der Pflege müssen sich radikal verändern.

Dr. Petra Thees (*1963) zog in jungen Jahren von Rügen nach Berlin und studierte dort an der Humboldt-Universität. 1988 promovierte sie in Linguistik. 1992 verließ sie Forschung und Lehre und fing bei „domino-world™“ an. Seit 2020 führt sie die Geschäfte als Vorstand. 2024 rückte sie zudem in den Vorstand der domino-coaching Stiftung auf.

Lutz Karnauchow, Dr. Petra Thees „Alt, fit, selbstbestimmt“, W. Kohlhammer Verlag 2025, 242 S.