©Kiwi-Verlag, 2023
Wenn mitten in der Nacht Anrufe erfolgen, ist das im Journalismus infolge von Zeitverschiebung oder dringlicher Nachrichten keine Besonderheit, doch durchaus verwerflich, wenn es sich um amouröse Angebote handelt, die ein Chefredakteur in Serie als Fürsorge um jeweils eine neue Auszubildende tarnt.
Benjamin von Stuckrad-Barre schlüpft als erzählerisches Ich in die Rolle eines Beobachters von außen. Sein Freund ist ein durchgeknallter CEO. Am Schluss ist er sein Ex-Freund. Dazwischen baut Benjamin von Stuckrad-Barre eine schillernde Partyszenerie in der Poollandschaft des Chateau Marmont in Los Angeles und dem neuen, völlig überdimensionierten Sendehochhaus in der Berliner Wintertristesse auf. Er nennt keine Namen, lässt die Story anders enden und doch sind die Bezüge durch den Bild-Skandal überdeutlich. Im Roman behält der Chefredakteur trotz eines großen Compliance-Verfahrens in Sachen #MeToo seinen Job. Die Frauen haben keine Chancen. Wer an die Öffentlichkeit geht, hat das Nachsehen, wird als Karriereflittchen eingestuft, kaltgestellt oder verliert den Job und bekommt oft keinen neuen mehr in dieser Branche.
Benjamin von Stuckrad-Barre spiegelt die schicken Oberflächen medialer Machtsysteme und reißt sie sprachgewaltig ein. Er zertrümmert die Syntax, reiht Stummelsätze und Satzungetüme aneinander, nervt wie die Werbung durch Großschreibung des anscheinend Bedeutsamen und erfindet ständig neue Wortkreationen, womit er sehr gekonnt und sarkastisch voll in die Mitte der Blasen unseres Zeitgeistes sticht.
Die Handlung kreist, schon im ersten Kapitel dicht an der Wirklichkeit entlang. Sophie, eine junge Auszubildende schwärmt vom Chefredakteur, der ihr so liebenswürdig zur Seite steht und sie protegiert. Die Warnungen ihrer Kolleginnen bzw. ihrer Vorgängerinnen schlägt sie in den Wind. Die anderen sind nur neidisch. Sex erfolgt natürlich im Einvernehmen. Doch sobald sie kritisch reagiert, wird auch sie wie eine heiße Kartoffel fallengelassen, öffentlich abgekanzelt und von heute auf morgen als niemand ignoriert.
Zwischen dem berühmten Park des Chateau Marmont in Los Angeles und dem Bau des Berliner Verlagshauses hin- und herpendelnd schildert Benjamin von Stuckrad-Barre die Exzesse der Superreichen und Mächtigen aus kritisch-parodistischer Distanz. Gewürzt mit großen Persönlichkeiten aus der Kultur Sophie Rois oder Lars Eidinger, die er im Gegensatz zu den Medienbossen benennt, suggeriert er dokumentarische Authentizität, ohne sich angreifbar zu machen. Das ist gut gemacht, weil die jungen, talentierten Frauen aus verschiedenen, sehr frustrierenden Perspektiven und trotz der #MeToo-Bewegung Opfer bleiben.
Doch das alles ist im Grunde bekannt. Der mediale Hype bestätigt nur einmal mehr, wie manipulativ auch die Vermarktung von „Bestsellern“ ist. Viel aufgeblasene Oberfläche, insgesamt wenig Substanz.
Benjamin von Stuckrad-Barre „Noch wach?“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 373 S.