©S. Fischer Verlag, 2024
Schon an der Grenze nach Russland wurde Alexej Nawalny, der Hoffnungsträger der russischen Opposition, bei der freiwilligen Rückkehr nach dem missglückten Giftanschlag verhaftet. Eine Anklage folgte der anderen. Jedes Urteil fiel schlimmer aus. Nawalny beschloss…
seine Gefühle aufzuschreiben. „Gefängnis-Zen“ nannte er es. Statt Wut, Zorn und Tränen programmierte er sich auf Akzeptanz. Das half ihm weiterzuleben, nach den Schwächen des Systems zu suchen, daraus Ratschläge für seine Anhänger zu finden, obwohl er wusste, dass er das Gefängnis nicht lebend verlassen würde, solange der „rachsüchtige Wicht“, wie er Putin tituliert, an der Macht war. Die zweite große Hilfe war ihm, wie er im Epilog bekennt, der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und an Gott und das daraus resultierende Bewusstsein, dass er selbst nicht alle Probleme zu lösen hatte.
Die Autobiografie, von seiner Frau Julija Nawalnaja postum publiziert, beginnt mit Nawalnys Nowitschok-Vergiftung. Ein vergiftetes Glas Vernon, von dem er nur einen Schluck trinkt, zwingt ihn, erst 44 Jahre alt, wenige Stunden später im Flugzeug zu Boden und nimmt ihm das Bewusstsein, das er erst nach wochenlangen Halluzinationen in der Berliner Charité wieder erlangt. „Sterben tat tatsächlich nicht weh“, konstatiert Nawalny, aber das Leben danach.
Lakonisch, sehr präzise, analytisch und distanziert beschreibt er im ersten Kapitel „Dem Tode nah“ sein Aufwachen aus dem Reich der Umnachtung, in das ihn sein Kampf gegen über 20 Jahre Putin-Herrschaft geführt hatte, weil er zusammen mit seinem Team über die sozialen Medien dem Volk die Augen öffnete über die nicht endende korrupte Seifenoper in Russland. Weil Putin die sozialen Netzwerke und YouTube anfangs völlig ignorierte, bot sich Nawalny eine perfekte Infrastruktur, die Menschen zu erreichen. Jede Folge war von drei bis fünf Millionen Mal auf YouTube aufgerufen worden.
Deshalb war Nawalny, obwohl er auf keiner Wahlliste stehen durfte, für Putin als „Volksaufwiegler“ höchst gefährlich. Mit Nawalnys Vergiftung zog Putin die Reißleine. Das Attentat misslang. Nawalny kehrte nach Russland zurück, obwohl er wusste, dass er auf der Abschussliste stand. Er war durchdrungen von der Vision eines freien und reichen Russlands, in dem jeder das Rentenalter erreichen und den gleichen Lohn wie in anderen europäischen Ländern bekommen sollte. Den Rücken stärkte ihm seine Frau Julija. „Das sollte in die Lehrbücher für Neurobiologie aufgenommen werden“, so Nawalny.
Um ihn zu verstehen, blendet Nawalny in „Heranwachsen“ zurück auf seine Kindheit als 9-Jähriger, der 700 Kilometer entfernt von Tschernobyl über den Reaktorunfall in einer Militärsiedlung nahe Obninsk die Verharmlosungslügen der Regierung hautnah miterlebt. Als Jura-Student wird er nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems nach einer kurzen Phase der Euphorie durch die Etablierung von Korruption und alten Machtstrukturen desillusioniert. Man kennt die Fakten, interessant ist es sie über die mediale Vermittlung hinaus aus der Perspektive Nawalnys zu sehen, beispielsweise Licht und Schatten der Regierung Gorbatschows. Mit Blick auf das Wesentliche, sehr lebendig, humorvoll, mitunter ironisch formuliert beschreibt Nawalny an konkreten Beispielen, wie schwer es in Russland ist, sich nicht von den korrupten Strukturen vereinnahmen zu lassen.
Nawalny erklärt den Aufbau seines oppositionellen Netzwerkes und zeigt immenses Verständnis für die Menschen. Er malt nicht schwarz-weiß, sondern entdeckt hinter korruptem Verhalten die systemisch verbreiteten Angststrukturen.
In den letzten zwei Dritteln über die Gefängnisaufenthalte wird die Autobiografie zum Tagebuch. Vom 21. Januar 2021 bis zum 17. Januar 2024 schreibt Nawalny über seinen täglichen Kampf gegen unsinnige Gefängnisrituale, Schikanen, Denunziationen, die Aktivisten, die sich mit den Lagerleiter gut stellen, um früher frei zu kommen und die immer stärkeren Repressalien, die sich bei jedem Gefängniswechsel ergeben.
Anfangs hält Nawalny mutig dagegen, nimmt Bestrafungen geduldig hin, liest und schreibt viel, macht Gymnastik, freut sich an den einfachsten Momente des Lebens, wie über ein Stück Brot mit Butter und eine Tasse Kaffee am Sonntag. Es überrascht ihn, dass es 200 Kilometer von Moskau entfernt noch ein Konzentrationslager gibt. Der freundliche, unterwürfige Umgangston und die korrekte Haltung der Gefangenen verraten, dass jeder Fehler mit tödlichen Schlägen enden könnte. Arztbesuche finden statt, aber es erfolgen keine Untersuchungen. Medizin wird verweigert. Als sich Nawalnys Rückenschmerzen verschlimmern, nimmt auch die Trostlosigkeit zu. Er geht in den Hungerstreik, um medizinisch versorgt zu werden. Aber die Torturen nehmen zu. Die Anklagen werden immer abstruser. Man wirft ihm Diebstahl von Spendengeldern, Schaffung einer extremistischen Organisation und Terrorismus vor. Nawalny lässt sich nicht unterkriegen und besteht bei den Verhandlungen darauf seine Aussagen protokollarisch festzuhalten. Den Krieg Putins und „seiner senilen Diebe“ gegen die Ukraine verurteilt er auf Schärfste, als „unmoralisch, brudermöderlich und verbrecherisch“, weil er Russland die Chance nimmt ein wohlhabendes Land zu werden. „Nicht der Westen, Putin ist der Mörder“. Die Antwort ist die Verlegung in die Strafkolonie 6 in Melechowo mit Endlosschleifen in Einzelhaft, wo es absolut nichts gibt und alles verboten ist. Man nimmt ihm das Anwaltsrecht, verlängert die Isolationshaft auf das Maximum von 12 Monaten und verlegt ihn schließlich in das schlimmste Gefängnis nördlich des Polarkreises bei minus 32 Grad.
Drei Jahre nach der Rückkehr nach Russland endet das Tagebuch mit einer Erklärung, wofür Nawalny kämpfte, für ein freies und reiches Russland.
Nawalnys sehr politisch ausgerichtete Autobiografie entlang biografischer Fakten frei von Larmoyanz und Fiktion ist über seinen Tod hinaus bewusstseinsbildend. „Der Patriot – meine Geschichte“ ist das Vermächtnis eines absolut loyalen Menschen, der wegen seiner Vision von einem glücklichen Russland von Putin aus dem Weg geräumt wurde, zugleich ein Aufruf Nawalnys Arbeit weiterzuführen.
Alexej Nawalny „Patriot – meine Geschichte“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 543 S.