©Suhrkamp Verlag
In seiner ausführlichen Einführung „Im Zwischenraum“ zeigt Philipp Sarasin das Jahr 1977 in seiner engen Verknüpfung zum Davor und als Wendepunkt für die großen Folgen danach. Eckpunkte sind die Jahre 1973 mit der Ölkrise und dem Ende des Booms und 1979 mit der Islamischen Revolution im Iran und dem Einmarsch der Russen in Afghanistan. Es geht ihm weniger um die großpolitischen Ereignisse als um die tiefen gesellschaftlichen Verschiebungen betrachtet aus unserer heutigen Perspektive. Symptomatische Zeitgenossen sind ihm Stichwortgeber. Ein umfangreiches Quellenregister bezeugt seine präzise Arbeitsweise.
Jedes Kapitel ist ein Kaleidoskop von Fakten und geistigen Bezügen, erfordert konzentriertes Lesen, bestätigt Erfahrungen und Einsichten, die man teilweise selbst erlebt und gewonnen hat, und erweitert den Horizont durch neue gedankliche Verknüpfungen und Perspektiven. Philipp Sarasin will nicht polarisieren, sondern durch verschiedene Denkansätze den Lesern diese Zeit in ihrer Bedeutung bewusst machen. Symptomatische Zeitgenossen sind ihm Stichwortgeber. Ein ausführliches Zitatenregister bezeugt historische Genauigkeit. Verwendet wurden nur Quellen, die bis zum 31. Dezember 1977 öffentlich zugänglich waren.
Die Publikation des Club of Rome 1972 stellte zum ersten Mal die unbeschwerte Konsumstimmung und Fortschrittsgläubigkeit in Frage. Während Alvin und Heidi Totter in ihrem Buch den „Future Shock“ (1970) als neue Krankheit beschrieben, rückte Charles Reichs Manifest „The Greening of America“ den neuen Menschen ins Bewusstsein. Bisherige Mythen verblassten, neue Narrative entstanden. Statt schlichter Liebes- und Unterhaltungsfilme wurden plötzlich apokalyptische Szenerien en vogue. Mit der Öffnung des Weltmarkts, dem Schwinden der amerikanischen Hegemonie, dem Niedergang der sozialistischen Alternative, dem Aufblühen neuer Technologien und der chinesischen Stärke begannen sich bereits in den 1970er Jahren die politischen Schwergewichte deutlich zu verschieben, Orientierungslosigkeit und Instabilität auszubreiten.
Die Synopse konträrer Einschätzungen vom „Herbst der Revolution“ über „Menschenrechte, Minderheiten und die Politik der Differenz, „Die Reise zu sich selbst“ und „Kulturmaschinen“ bis „Im Schatten der Natur“ macht „1977“ für ausdauernde und wissbegierige Leser so lesenswert. Gerade im Vergleich der Gleichzeitigkeiten entwickeln sich verbindende Strukturen und Muster, ähnliche Motive und Problemlagen, die die Gegenwart besser verstehen lassen.
„1977“ ist ein Buch über die Zeitenwende einer „alt gewordenen Moderne“, über einen Strukturbruch, in dem die Dominanz des Allgemeinen als Ausdruck der Gleichheit verblasste und sich im Widerstand dazu die Idee der postmodernen Singularitäten zu entwickeln begann, die jetzt zunehmend das Denken und Handeln bestimmt.
Und genau deshalb wählte Philipp Sarasin das Jahr 1977. Es ist das Jahr, in dem Foucault von der Strategie des „Überwachens und Strafens“ auf die „Autonomie des Subjekts“ umschwenkte, die das Heute dominiert.
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Philipp Sarasin (*1956) ist Professor für Neue Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Er war Mitbegründer des Zentrums Geschichte des Wissens von Universität und ETH Zürich und ist Mitherausgeber des Online-Magazins Geschichte der Gegenwart.
Philipp Sarasins „1977“ ist für den Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Sachbuch nominiert. Die Preisträger werden am 11.11.2021 in der Allerheiligen Hofkirche München ausgezeichnet. Die Veranstaltung wird vom Radio B 2 um 20:05 Uhr übertragen
Philipp Sarasin „1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart“, Berlin 2021, 502 S.