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Jeder der dreizehn Essays steht ganz für sich. Je nach persönlicher Interessenlage wird man einige Essays mehr, andere weniger zu schätzen wissen. Formuliert und durchdacht sind sie alle exzellent, wenn auch sehr bildungssprachlich, was mitunter, wie er bei anderen gerne moniert, etwas „bräsig“ wirkt und im 20. Jahrhundert verortet ist, ohne inhaltlich die jüngsten Entwicklungen durch die Digitalisierung einzubinden. Vieles könnte man viel einfacher formulieren, aber dann fehlte der elitäre Anspruch intellektueller Überlegenheit und sprachlicher Polemik.
Schon der erste Text „Dietrichs misslungene Brautwerbung“ reduziert das Heldentum auf die Rezeption des Umfeldes, angefangen von der Antike bis zu Stallones „Rambo“. Der Held braucht Publikum, muss bewundert werden. Auf einer einsamen Insel gibt es keinen Helden. Er hat auf jeden Fall eine große Portion Narzissmus, ist sich selbst genüge, gleichgültig gegenüber anderen, nie verheiratet, nie Pensionär und immer männlich. Sein Leben endet früh durch einen tragischen Tod. Was Heldsein letztendlich bedeutet hängt von den gesellschaftlichen Präferenzen ab, gerade diesbezüglich fehlt aber der ganze Kosmos weiblicher Heldinnen. Sie mit Pippi Langstrumpf und Jeanne d´Arc als rein persönlich agierend zu negieren, genügt der Sachlage nicht.
Im „Untergang von Rom“ demonstriert Reemtsma, wie Felix Dahns Kriegsheldentum missverstanden wurde. Dahn geht es nicht um das Völkische, sondern nur um den Staat, der die Realisierung der jeweiligen Rechtsideale in einer bestimmten Zeit ermöglicht und historisch übernommenes Recht weiter entwickeln muss.
Über Homers „Ilias“ kommt Reemtsma zu dem dem Schluss „Alles bekommt man ja einmal satt“, womit er die Kriegsgräueltaten meint und nicht nur Arno Schmidts Gedanken, Helden sollten in der Wiege getötet zustimmt, sondern ihn ergänzt „ebenso Maulhelden“.
Bei „Gewalt – der blinde Fleck der Moderne“ beginnt Reemtsma vor 500 Jahren, als Gewalt während der Kolonialkriege als Bekämpfung der Barbaren legitimiert wurde und endet bei Kafkas Herrn K. als fiktives Beispiel für verloren gegangenes soziales Vertrauen, das später in massenhaftem Suizid endete.
„Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet“ gilt heute als pathologische Entgleisung. Beispiele wie Gewalt in der Ehe oder Waffenbesitz zeigen die institutionelle Einschränkung, was in einer Gesellschaft als normal erwartete Gewalt erlaubt ist.
In der kriegerischen Gewalt entdeckt Reemtsma drei Legitimationsrhetoriken. Krieg wurde ursprünglich als angeblicher Zivilisationsauftrag gegen die Barbaren deklariert, als eschatologische Säuberung der diversen Revolutionen, im Dritten Reich als Völkermord, womit sich Kants Vision von einer gewaltfreien Zukunft, in seiner Zeit wie das Erdbeben von Lissabon 1755 ein alles durchrüttelnder Gedanke, als Irrtum herausstellte. Die kollektiven Gewalthandlungen der RAF, des IS oder der urbanen Gewalt sieht die heutige Gewaltsoziologie als Symbolhandlungen, um das zu zerstören, was unsere Kultur und Sicherheit ausmacht.
In der Kritik kann Reemtsma gnadenlos sein. Walter Kempowskis „Alles umsonst“ attackiert er als „dramatisch diffus“, mit oberflächlichen „Scherenschnittfiguren“ in „Sprech-/Denkblasen-Methodik“ formuliert als „Lakonie-Zuckerguß“ ohne Eigenstil über alles gestreut, eine „Zeigestockliteratur“, stereotyp, fleißig gesammelt ohne berührenden Lebensfunken, nur nett nach dem Prinzip ohnehin „Alles umsonst“.
Etwas langatmig umkreist Reemtsma anschließend das Phänomen Schmerz aus der Perspektive von Sophokles und dessen lautmalerisch theatralem Klageruf „Papai apappapai“ bis zur harschen Aburteilung eines Spiegelartikels „Den Schmerz besiegen“, um dann endlich zu seiner wesentlichen Aussage zu kommen, dass der Mensch im Schmerz von Trost verschont bleiben sollte. Das kann man so sehen, ob es stimmt, ist eine andere Sache.
Hermeneutisch, überaus spitzfindig und pointiert formuliert enthüllt Reemtsma, warum Stefan Georges Gedicht „Meine weissen Ara/ Träumen von den fernen Dattelbäumen“ jegliche Empathie für Lebewesen fehlt, was er auf den ganzen Dichterkreis verallgemeinert und statt der „Ästhetik des Hospitalismus“ eine Poesie fordert, die neue Blicke eröffnet. Das kann sie nur, wenn durch die Wörter des Gedichts eine Welt erkennbar ist.
Bei „Gewalt gegen Tiere“ provoziert Reemtsma mit der Ovid- und Pythagoras-Rhetorik den Menschen als Mörder des Tieres. Aus dieser These entwickelt Reemtsma in einer ausführlichen Argumentationskette noch einmal das Wesen der Gewalt in modernen Zeiten in Verbindung von staatlichen Organisationen, ihrem kulturellen Hintergrund als Legitimationen von Gewalt zur Dominanz-, Macht- und Schutzausübung gegenüber anderen. In manchen Kontexten akzeptieren Menschen Gewalt, auch gegenüber Tieren. Dass dies immer aus anthropozentrischer Sicht erfolgt, muss bewusst sein. Wer Tiere tötet, ausschlachtet, outet sein eigenes Menschsein. Lust, Ekel oder Scham? Genau darum geht es für Reemtsma bei der „moralischen Evolution“.
Die philosophischen Debatten um das „Scheinproblem Willensfreiheit“ will Reemtsma einfach nur beenden. „Die Philosophie wurde nur deshalb zur Grundlagendisziplin, weil sie niemand außerhalb der philosophischen Seminare nur Kenntnis nehmen musste und im praktischen Leben keine Wirksamkeit erzielte.“ Jeder kann nur so handeln, wie er individuell will und das Wollen, die Entscheidung, ist die Folge neuraler Prozesse, der Sozialisation und des Charakters. Die philosophischen Diskussionen über Wollen haben weder Bedeutung für die einzelnen Bereiche der Wissenschaft und des Lebens noch für das Strafrecht.
Sehr interessant sind Reemtsmas Erläuterungen zum Strafrecht und dessen normierten Grenzüberschreitungen in Abhängigkeit von den historisch sich verändernden moralischen Debatten in der Gesellschaft. Zur Verhandlung steht die Tat, nicht das Leid. Darüber hinaus ist seit ca. 20 Jahren das Opfer und sein Befinden immer mehr in den Mittelpunkt gerückt, dem man früher oft selbst die Schuld anlastete. Wenn das Opfer auch nur Zeuge ist, hört man seinen Leidensberichten zu und gewinnt Wissen und Sensibilität für das Leid der Opfer. Vergeltungsrecht kann das Strafrecht allerdings nicht sein. Ein staatliches Opferentschädigungsgesetz würde bedeuten, dass der Staat an Straftaten mitschuldig ist. Um das zu verhindern, müsste er staatliche omnipräsente Kontrollen einführen, was einem demokratischen Staat zuwider läuft. „Desillusionierungen sind schmerzlich, stehen aber im Dienste der Realitätsbewältigung“. Doch das Strafrecht schleppt immer noch ungelöste Probleme mit sich, so die negative Generalprävention, bei der bestimmte Delikte um der Abschreckung willen härter bestraft werden als üblich oder die Haftstrafen in Gefängnisse, die nur eine Schulung im Verbrechen bewirken.
Mit Herders Geschichtsbetrachtung schließt Reemtsma seine „Helden und andere Probleme“ historisch gesehen optimistisch ab. Ausgehend von Cranachs Altarbild in der Herderkirche in Weimar bringt er Herders Metapher von der Geschichte als Baum in Erinnerung. Vom Wurzelstock über den Stamm stellen nur die kleinsten Äste die jeweilige Gegenwart und das Wachstum für die Zukunft dar. Der Mensch lebt zwar ohne Gott in „transzendentaler Obdachlosigkeit“, wie es Georg Lukács formulierte, aber Reemtsma setzt Frank Capras Film „Ist das Leben nicht schön?“ dagegen, in dem ein Engel dem Protagonisten zeigt, wieviel ärmer die Welt ohne ihn gewesen wäre.
Jan Philipp Reemtsma wurde als Sohn eines Zigarettenfabrikanten geboren. Er studierte in Hamburg Germanistik und Philosophie. Als er mit 26 Jahren sein Erbe erhielt, war er einer der reichsten Männer Deutschlands. Vom 25. März bis zum 26. April 1996 wurde Jan Phillipp Reemtsma entführt und gegen Lösegeld freigelassen. Sein Leben widmete er der Literatur und Wissenschaft. Er gründete das Hamburger Institut für Sozialforschung und ist Geschäftsführender Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.
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Jan Philipp Reemtsma „Helden und andere Probleme. Essays“, Wallstein Verlag, Göttingen 2020