"Kultur macht glücklich"


Wim Wenders – „Wesentliches“

Veröffentlicht am:

von

Wim Wenders – „Wesentliches“

©Verlag der Autoren

„Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn es die Jukebox nicht gegeben hätte“, bekennt der berühmte Filmemacher Wim Wenders. Die Musik war…

zuerst da, dann kam der Film. Was Wenders Filme ausmacht, wie er sie realisierte, erzählt er in seinem neuen Buch „Wesentliches“, das aus vier Vorträgen besteht, die er in Essays verwandelte. 150 Seiten sollten es werden, vier Kapitel mit 335 Seiten sind es geworden. Je nach den Vorlieben des Lesers braucht es etwas Geduld, bis „Wesentliches“ wirklich interessiert, denn Wenders beschreibt akribisch genau seine verschiedenen Kameras, die Musik und die Einstellungen der Filme. 

Da Wenders keine Vorworte mag, um sich ohne Vorkenntnisse von einem Buch überraschen zu lassen, hat auch der Leser, wenn er im Vorfeld keine Buchrezension gelesen hat, dieses spezielle Vergnügen. Die zweite Besonderheit ist der Flattersatz. Was auf den ersten Blick wie ein Versroman wirkt, ist nur Wenders Abneigung gegen den uniformen, einengenden Blocksatz geschuldet. Den Flatterdruck empfindet er als leichter und freier. Und er ermöglicht es, weniger interessante Passagen schneller zu überfliegen.

Wenders neues Buch beginnt mit „Ich bin ein praktizierender Romantiker“ auf der Basis von zwei Vorträgen, die er in Frankfurt a. M. 2014 und 2017 zur Romantik hielt. Penibel beschreibt er, wie Filmsequenzen entstehen und was ihn dazu inspirierte bzw. was den Menschen schlechthin antreibt. Über Bahnfahrten lernte Wenders die Magie der Dämmerung kennen, über die Jukebox die Magie der Musik, wodurch er sich als Regisseur wie ein Romantiker fühlte, getrieben nicht von der Sehnsucht nach ästhetischer Schönheit, sondern nach der Wahrheit, die nur durch das Wahrnehmen erlebbar ist. Über die Musik konnte Wenders die Filmsequenzen authentisch und sehr atmosphärisch verorten. Roadmovies verwandelten sich in eine Reise ins Innere der Seele der Protagonisten und die Filme in eine Fundgrube der gängigen Songs aus der jeweiligen Musikepoche kombiniert mit dem Score-Sound und der Tonalität der Erzählstimme. Dokumentiert mit Fotografien erlebt der Leser Wenders akribischen Schaffensprozess nach. 

Den Vortrag „Driven by Music“ improvisierte Wenders 2015 nach einem 12-seitigen, stichwortartigen Manuskript im IFC Center in New York. Ausformuliert wurden es 136 Seiten über die Entstehungsgeschichte seiner Porträtfilme, die durch Musik die Narrative entwickelten. Für „Lisbon Story“ komponierte die Band Madredeus für jeden Stadtteil eine spezifische Musik, woraus sich der Charme der portugiesischen Hauptstadt entwickelte. In Havanna entdeckte Wenders den „Buena Vista Social Club“, machte ihn zum internationalen Label und die Stadt zum Sehnsuchtsort menschlicher Fröhlichkeit, nochmals getoppt von „Der Himmel über Berlin“, wodurch Berlin international eine mythische Komponente bekam, musikalisch nochmals übertroffen von „Perfect Days“, bei dem Wim Wenders aufgrund des großzügigen Produzenten, der alle Musikrechte bezahlte, alle seine Lieblingssongs integrieren konnte. 

Ganz wichtig ist für Wenders das Kadrieren, dem er 2022 einen Vortrag für die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste Berlin widmete. Inspiriert von alten holländischen Meistern, den Fotografien des Vaters, von Wilhelm Busch und US-amerikanischen Comics kreiert Wenders für jede Filmszene die geeignete Einstellung. Die Wahl der Einstellung entscheidet über die Art des Sehens. Sie erfolgte anfangs nur über die Totale, die harte Schnitte verursachte, die wiederum durch leitmotivische Zwischeneinstellungen, später durch die Halbtotale, Schwenks und andere Kamerabewegungen modifiziert wurden. Paradebeispiel ist der Anfang von „Perfect Days“. Der Betrachter identifiziert sich sofort mit Herrn Hirayama, dem Toilettenputzer, und erlebt dessen Alltag aus ganz persönlicher Perspektive. 

Die Quintessenz ist „Der liebevolle Blick“, eine Rede, 2019 gehalten vor der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg 2019 nach der Verleihung der Doktorwürde h. c.. Man stelle sich die tausendfachen Blicke vor, mit denen sich die Menschen im Alltag begegnen und wahrnehmen. Es wäre ein gigantisches Kaleidoskop. Doch erst der liebevolle Blick über das oberflächliche Sehen hinweg in die Tiefe der Seele schafft Nähe und Verständnis zu Menschen und Dingen. Dieser Akt vom Sehen über das Zeigen zum Handeln wie in „Der Himmel über Berlin“, genau darum geht es Wenders in seinen Filmen.

„Wesentliches“ ist ein Eldorado für Wim-Wenders-Fans. 

Wim Wenders ist einer der weltweit anerkanntesten Filmemacher unserer Zeit. Seine Filme erhielten zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen und waren mehrfach für den Oscar nominiert, zuletzt 2024 „Perfect Days“. Als Fotograf ist Wim Wenders international in Museen und Galerien präsent. Als Drehbuchautor kam er 1971 zum Verlag der Autoren, dessen Gesellschafter er seither ist. Seine Bände mit Essays, Interviews und Reden, sein Buch „Einmal. Bilder und Geschichten“ wurden in über 20 Sprachen übersetzt.

Wim Wenders: Wesentliches, Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2025, 335 S.