"Kultur macht glücklich"


Janna Steenfatt „Mit den Jahren“ – vom Wunsch ein anderes Leben zu führen

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Janna Steenfatt „Mit den Jahren“ – vom Wunsch ein anderes Leben zu führen

©Nagel & Kimche Verlag

Lukas, ein Künstler, ist mit der Mathematiklehrerin Helga verheiratet. Das Leben der inzwischen vierköpfigen Familie ändert sich, als Jette auftaucht. Das lässt Klischees assoziieren, aber genau diese…

durchkreuzt Jana Steenfatt in ihrem neuen Roman „Mit den Jahren“. Vortrefflich puzzelt sie diese drei Personen aus Alltagssituationen und Erinnerungen zusammen. Dabei geht es weniger darum, Beziehungen zu verschieben, vielmehr um grundsätzliche Fragestellungen, wie zufällig im Grunde menschliches Leben entsteht und sich weiterentwickelt, in welchen Situationen sich das Leben plötzlich ändert, man einen Weg einschlägt, wo doch ein ganz anderer auch möglich gewesen wäre, und wie wichtig es ist, dieselbe Sprache zu sprechen. Steenfatt entwirft neue Lebensmodelle, überspitzt selbstironisch die Gegenwart und erklärt dominante Eigenschaften und die sich daraus ergebende Probleme ihrer Protagonisten durch die prägende Sozialisation der Eltern und Geschwister. 

Lukas malte zunächst nur Menschen, die sich wie Tiere benehmen, jetzt Tiere, die wie Menschen agieren. Während seines Studiums in Leipzig lernt er Eva kennen. Der Roman beginnt mit dem ganz gewöhnlichen Alltag dieser inzwischen 4-köpfigen Familie. Das Gegenmodell ist Jette. Mit über 40 Jahren hat sie sich an ihr Singledasein und ihre lesbischen Beziehungen gewöhnt. In einem nostalgischen Laden verkauft sie tagsüber DVDs, die keinen mehr zu interessieren scheinen. Abends schreibt sie an einem Roman, in dem sie sich mit der menschlichen Existenz auseinandersetzt, ohne wirklich vorwärts zu kommen. 

Als Jette Lukas in einer Bar kennenlernt, treffen extrem unterschiedliche Welten aufeinander und enthüllen in jedem Kapitel aus einer anderen Perspektive die Unterschiede, künstlerischer und bürgerlicher Lebensweise, stylischem und schlichten Lebensstils, heterogener oder homosexueller Liebe, Egozentrik und sozialem Verantwortungsgefühl.

Aus der Distanz eines auktorialen Erzählers entwickelt Steenfatt die Psychogramme ihrer Figuren so klar und realistisch, dass der Leser immer wieder mit Situationen konfrontiert wird, die er selbst in Variationen erlebt haben könnte oder wie ein Déjà-vu-Erlebnis wirken. Über die Selbstironie der Figuren kritisiert Steenfatt die Trends unserer Zeit, in der Beziehungen wie Wohnungen gesucht werden. Am besten man hat eine neue, bevor man die alte verlässt. Man fährt zweigleisig, um nicht obdachlos zu werden. Man projiziert das Ideal eines Sehnsuchtsmenschen oder einer glücklichen Familie auf das unmittelbare soziale Umfeld und ist enttäuscht, wenn es sich schließlich in einer banalen Alltäglichkeit enthüllt. Euphorisches Lebensgefühl hat weniger mit dem jeweiligen Partner zu tun als mit der eigenen Kreativität, die allerdings durch die soziale Resonanz inspiriert wird. 

Immer wieder lässt Steenfatt die Problematik zwischen häuslicher ritualisierter Geborgenheit und der damit verbundenen, klassischen Rollenverteilung eines Mutterdaseins und damit einhergehender intellektueller Unterforderung aufleuchten. Körperliche Liebe degradiert zur automatisierten Zärtlichkeit und zum Versöhnungssex. Mit realistischem Blick nimmt die Autorin der sexuellen Verführung jegliche Romantik, wertet aber mit Jettes Erfahrung „Ein Frauenkörper fühlt sich an wie ein Nachhausekommen“ lesbische Liebe auf. 

Der Wunsch ein anderes, ein besseres Leben zu führen, hinterfragt das bisherige, aber gerade durch die konträre Personenkonstellation eröffnen sich neben erodierenden Elementen durchaus neue hoffnungsvolle Perspektiven, weil zumindest die beiden Frauen den Mut haben, sie zuzulassen. An die Stelle eines rigiden Entweder-oder tritt ein hoffnungsvolles Sowohl-als auch.

Janna Steenfatt (*1982, Hamburg) studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie lebt als freie Autorin in Leipzig und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Ihr Debütroman „Die Überflüssigkeit der Dinge“ erschien 2020 und wurde für den Klaus-Michael- Kühne-Preis nominiert.

Janna Steenfatt: „Mit den Jahren“, Nagel & Kimche Verlag, Hamburg 2024, 349 S.