©Bayerische Staatsoper, Foto: Geoffrey Schied
Auf der schmucklosen Bühne wird Tango getanzt, während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen. Um menschliche Nähe wird es also gehen in einem Umfeld, das durch Vereinsamung geprägt ist. Über die Tango-Symbolik…
eröffnet sich Krzysztof Warlikowkis heutiger Blick auf Leoš Janáčeks „Kát’a Kabanová“ (1921). Mehr als hundert Jahre nach der Uraufführung bleiben immer noch dieselben Sehnsüchte nach Freiheit und Liebe oftmals unbefriedigt. Zur Ouvertüre hüpft und tanzt Kát’a, wunderbar mit Corinne Winter besetzt, vor einer Jutebox. Klein, zierlich, mit langen Haaren im roten Sommerkleid und rotem Lollipop ist sie Inbegriff einer fröhlichen Mädchenfrau, die die Welt erobern will. Doch über eine große Projektionsfläche ganz nah wird bereits ihre latente Traurigkeit infolge nicht erfüllter Sehnsüchte sichtbar.
Außergewöhnlich poetisch, ohne die üblichen Provokationen entwickelt Warlikowski mit seinem künstlerischen Team ein überaus spannendes Psychogramm dieser jungen Frau, die, religiös erzogen, sich den gesellschaftlichen Normen der bürgerlichen Familie anpasst, durch eine Liebesbeziehung auszubrechen versucht, im Gegenzug durch ihre gläubige Aufrichtigkeit in Gewissensnöte gerät, die sie in den Selbstmord treiben, für sie ein Erlösungsakt in eine jenseitige Freiheit, die das Diesseits mit ihren familiären Dominanzen konsequent verweigert. Die Schwiegermutter, mit Violeta Urmana ein sängerisch und schauspielerisch dominanter Gegenpol, zieht die Fäden der Macht, degradiert den Sohn Tichon (John Daszak) und ihre Schwiegertochter Kát’a zu Untertanen. Ihn schickt sie nach Moskau zur Arbeit, um so etwas wie eheliche Liebe erst gar nicht aufkommen zu lassen. Boris (Pavel Černoch), Kát’as Geliebter, wird nach Sibirien verbannt. Keiner nimmt sie mit, auch wenn sie sich wie ein Äffchen an sie klammert.
Die Dynamik der Vereinsamung macht Malgorzata Szczęśniak in sinnlichen Bühnenbildern erlebbar, verortbar überall auf der Welt. Zunächst frei auf der Tanzfläche öffnet sich die helle Rückwand in einen bürgerlich spießig akkuraten Wohnraum, dahinter schimmert durch die großen Fenster eine spartanische Mineral-Bar so kühl wie ein Eisladen, zusammen mit einem vereinsamt herumstehenden Aquarium Symbol für die reinigende Kraft des Wassers.
Die kammerspielartige Liebesgeschichte gewinnt ihre emotionale Dichte durch Corinne Winters ungewöhnliche Bühnenpräsenz, die im Zoom der Videos und durch die Transparenz der Musik enorm intensiviert wird. Vor einem Monat bei den „Opera! Awards“ als beste Sängerin ausgezeichnet, erobert sie mit ihrem Debüt in München das Publikum durch glasklare Höhen, überraschend aufglühende Tiefen und differenzierte Dynamik. Nichts wirkt aufgesetzt theatralisch. Jedes Detail wird von Winters durchdacht, empathisch und sehr authentisch in Szene gesetzt. Wenn sich Kát’a in Unterwäsche vor den Bürgern versteckt und sich verstohlen ein Kleid von Schaufensterpuppe überzieht, weicht das Schmunzeln einer inneren Betroffenheit.
In allen Rollen sehr gut besetzt, markant in Szene gesetzt, bleibt doch der Fokus ganz auf Kát’a, der Varvara, mit Emily Sierra eine sehr taffe Freundin mit durchdringender Stimme, den Weg in die Freiheit zeigt. „Die Liebe hat aus dir eine Zarin gemacht“, schwärmt Varvaras Freund Kudrjáš (James Ley) und voller Hoffnung entfliehen beide in ein „fröhliches Leben“ in Moskau.
Kát’a kommt mit Boris (Pavel Černoch) nur bis zu einer gelben Blumenwiese, die sich sehr poetisch über die ganze Bühne weitet. Mit weißer Maske wie ein trauriger, hilfloser Clown entschwindet er nur noch als weißer Fleck im Blumenmeer wahrnehmbar, eine faszinierend poetische Szene, die man so schnell nicht vergessen wird. Die Wiese wandelt sich zur Wasserfläche, in der Kát’as Leiche treibt.
Unter der musikalischen Leitung von Marc Albrecht offenbart sich Janáčeks komplexe Musik in ihrer ganzen Schönheit. Die Musik fokussiert weniger auf die Handlung, sondern auf die Gefühle dieser familiär voneinander abhängigen, konträren Charaktere. Sehr subtil arbeitet das Orchester die einzelnen Schichten der Musik heraus. Ganz deutlich hört man neben den gesangbegleitenden Linien im Untergrund die sehr konträren Emotionen Kát’as, manchmal fröhlich in volkstümlicher Naturverbundenheit, öfter verzweifelt und völlig aufgewühlt nach ihrem öffentlichem Geständnis, bei dem das Orchester ihre Gefühle wie in einem Gewitter mit martialischer Wucht offeriert und gleichzeitig auf das zugrunde liegenden Schauspiel „Gewitter“ von Alexander N. Ostrowski anspielt.
Final knallen der Schwiegermutter die Schuldzuweisungen um die Ohren. Die Bühne erstarrt, nur noch der Chor aus dem Off ist zu hören. Schließlich betroffenes Schweigen. Dann ein wahrhaft explosiver Applaus für dieses außerordentlich stimmige Opernerlebnis.
Künstlerisches Team: Marc Albrecht (Musikalische Begleitung), Krzysztof Warlikowski (Inszenierung), Malgorzata Szczęśniak (Bühne, Kostüme), Felice Ross (Licht), Kamil Polak (Video), Claude Bardouil (Choreografie) Franz Obermair (Chor), Christin Longchamp, Lukas Leipfinger (Dramaturgie)
Mit: Milan Siljanov (Dikoj), Pavel Černoch (Boris), Violeta Urmana (Kabanicha), John Daszak (Tichon), Corinne Winters (Kát’a), James Ley (Kudirjaš), Emily Sierra (Varvara), Ekaterine Buachidze (Glaša), Elene Gyritishvili (Fekluša), Samuel Stopford (ein Mann), Natalie Lewis (eine Frau)