©Dumont Verlag, 2024
Fitness- und Muskeltraining gelten in unserer Gesellschaft als Nonplusultra der Gesundheit. Arvid Neumann, ehemaliger Leistungssportler, Sportwissenschaftler, Humanmediziner und Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie ist ganz anderer Meinung…
Nicht die Muskeln, sondern die Faszien sind für unsere Gesundheit bedeutsam. Noch vor 30 Jahren völlig unbekannt, rückt das weißlich, elastische Gewebe, das unsere Organmulden, Gelenkkapseln, Muskeln, Muskelfasern, Sehnen, Bänder, Arterien und Nerven vom Kopf bis zur Fußspitze umgibt ins Bewusstsein der Menschen. Mit einem Gewicht von 20 Kilogramm und 250 Millionen sensorischer Nervenendungen sind die Faszien unser empfindsamstes Sinnesorgan. Es gibt dem Körper Energie, wenn er aufrecht, geschmeidig, harmonisch wie bei Kindern mit Freude an der Bewegung agiert. Das wiederum verhindert unser Fitnesskult, indem schwache Körperstrukturen durch Fitnessübungen überlastet werden, durch die sture Wiederholung der immer gleichen Bewegungen die Gesamtharmonie des Körpers eingeschränkt wird. Waschbrettbauch und ausgeprägte Armmuskulator entsprechen einem trendigen Schönheitsideal, bringen aber keinerlei körperliche und gesundheitliche Vorteile. Im Gegenteil straffe Muskelpartien engen die körperliche Beweglichkeit ein. Das Ziel sollte aber sein sich geschmeidig, harmonisch und anmutig zu bewegen, wodurch Wendigkeit und auch, wie die asiatische Kampfkunst beweist, Kraft ausgelöst werden, vor allem aber auch Wohlgefühl und Lebensfreude.
Sehr anschaulich erklärt Neuhausen das Netzwerk der Faszie, das zwischen Haut und Kern einer Zelle als „eine Art Schwarmintelligenz“ die organische Architektur des Körpers in Balance und Bewegung hält, für ein Gefühl von Vitalität sorgt, bei Dysbalancen aber auch Schmerzen und Verspannungen verursacht. Es sind nicht einzelne Faszien, sondern es handelt sich um ein ganzheitliches Geflecht, das aus 70 Prozent Wasser besteht. Der Rest sind vorwiegend Zucker-Eiweiß-Verbindungen durchsetzt mit Fibroblaten, hochaktiven Zellen, in denen Hyaluron eingelagert ist, wodurch die Faszie geschmeidig bleibt, ein Prinzip, das die Kosmetik gegen Faltenbildung anwendet. Die Faszie hat zweieinhalbmal mehr Nervenenden als die Haut, wodurch bei einer Massage der Faszie oft an ganz unvermuteten Körperstellen Schmerzen erfolgen oder gelindert werden können. „Die berühmten Meridiane der chinesische Medizin sind vermutlich wichtige Verbindungen der Faszie.“
Für Menschen, deren Körper nicht außerordentlich einseitig belastet wird, die eine gute Körperhaltung und ein gesundes Fasziensystem haben, reichen die normalen Alltagsbewegungen, um sich fit zu halten. Man muss nur auf die Bewegungsqualität achten. Da die Faszie sich permanent umbildet, ist es wichtig den Körper vielseitig zu bewegen. Das beginnt mit dem richtigen Liegen, egal wo und wann, am besten in Rückenlage auf harten Untergrund. Jede Futon ist besser als eine pseudowissenschaftlich aufgewertete Matratze. Loslassen und entspannen ist die Voraussetzung für gute Bewegungen, wie das bei indigenen Menschen, Kindern, Tieren sehr gut zu beobachten ist und bereits über „Animal-Movement-Training“ für Fitness-Work-Outs oder „Fluent Body“, eine spezielle auf natürlichen Bewegungen beruhende Tanztechnik, vermarktet wird.
Neumann fokussiert auf einfache Bewegungsmuster, die im heutigen Alltag verloren gegangen sind. Er beschreibt, wie man richtig sitzt, hockt und sich bückt, steht und geht, atmet und mit den Armen flattert, als fliege man. Nicht das von der Sportschuhindustrie gehypte Fersenabrollen propagiert er, sondern den Ballengang. Es genügen normale Bewegungen um Myokine, die Botenstoffe mit entzündungshemmender Wirkung zu produzieren. Dabei kommt es „nicht auf die massenhafte Produktion von von Myokinen an, sondern auf die größte Durchlässigkeit und Verteilung im Körper“, so Neumann, und dafür ist „eine geschmeidige, flexible Faszie notwendig kombiniert mit alltäglicher, moderater Bewegung.“
Zwischendurch erklärt Neumann in großen Zügen Exzesse sportlicher Übertreibungen quer durch die Kulturgeschichte von den Gladiatorenkämpfen der Antike bis zu den überzogenen Sportleistungen der Gegenwart und die Geschichte der Orthopädie. Durch „Geschichten aus der Praxis“ mit seinen Patienten und auch durch seine eigene Vita demonstriert er, wie durch osteopathische Behandlungen Schmerzen verringern werden konnten oder ganz geheilt wurden.
Sehr einfach und ausführlich geschrieben, überzeugt Neumann trotz des polarisierend werbewirksamen Titels „Die Fitness-Lüge“ durch seine klare Argumentation, wobei er etliches auch knapper hätte formuliert können. Seine Botschaft ist nicht lebenslängliche osteopathische Behandlung, sondern die aktive Selbstwahrnehmung und das Fühlen deren eigenen Verspannungen und Muskeltätigkeit, damit man rechtzeitig gegensteuert, um sich ein harmonisches und schmerzfreies Körpergefühl zu bewahren. In seiner Begeisterung für die Faszie gerät er final allerdings in spekulative Pathetik. Die Modellierung der Faszie wirkt auf die Psyche, Ängste schwinden, vielleicht ist sie, „was die Menschheit seit Jahrtausenden sucht: der Sitz der Seele“.
Dr. med. Arvid Neumann war als Fußballer Leistungssportler, studierte Sportwissenschaft und Humanmedizin. Er arbeitete als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und war Chefarzt einer Rehaklinik. Er praktiziert als Faszien-Orthopäde im Taunus.
Dr. med. Arvid Neumann: Die Fitnesslüge, Dumont-Verlag, Köln 1975, 256 S.