©Gabriela Neeb
Ein weites Panoramabild brandenburgischer Landschaft davor eine schräge quadratische Spielfläche nur über Leitern erreichbar signalisieren den Laborcharakter von Christian Stückls Dramatisierung von Juli Zehs viel besprochenem Roman „Über Menschen“ aus der Perspektive ihrer Heldin Dora…
Während der Coronazeit flieht Werbetexterin Dora nach einer gescheiterten Beziehung mit Klimaaktivist Robert und dessen „Denkimperativen“ aus Berlin. In Bracken, einem kleinen brandenburgischen Dorf, sucht sie Abstand zur Großstadthektik und einen Neubeginn, der sich ganz anders gestaltet, als sie dachte. Man interessiert sich für die Probleme der anderen, man hilft, streitet sich, verträgt sich wieder und hält Widersprüche, die man nicht lösen kann, aus. Dora entdeckt ihre Talente und hinter konträren Gesinnungen und aggressiver Gewalttätigkeit menschliche Schicksale, wodurch sie das Leben neu zu begreifen beginnt.
Unter Stückls Regie gelingt ein expressiv existenzieller Abend, in dem die ideologischen Polaritäten zwischen Großstadt und Land, Apokalypse und Durchhalten durch den weiten Blick auf die Landschaft und sepiafarbene Lichtstimmungen erlebbar werden. Durch den Mix aus grotesker Übertreibung und märchenhafter Ironisierung entstehen pointierte Reibungsflächen zwischen Wunschvorstellungen und Realitäten, die den Blick auf die Orientierungslosigkeit unserer Gegenwart schärfen.
Den Kosmos ideologischer und sozialisierter Engstirnigkeit explodieren zu lassen genügen Stückl wenige tragisch-komische Dorftypen. Gote, mit Jakob Immervoll als grobschlächtiger Nazi, der ständig rebelliert, sehr überzeugend besetzt, ist die markanteste Figur.
©Gabriela Neeb
Seine 10-jährige Tochter Franzi spielt Anne Stein als dröge Prinzessin mit zunehmend sympathischer Aura und dem zielsicheren Instinkt eines Kindes, das Geborgenheit sucht. Das homosexuelle Liebespaar Steffen (Julian Gutmann) und Tom (Steffen Link) setzt durch seine Geschichten, die vor Klischees nur so triefen, kabarettistische Akzente. Im ländlichen Umfeld des Ostens, in dem die großen gesellschaftspolitischen Ereignisse angesichts der alltäglichen Anforderungen ganz anders rezipiert werden und keine so große Rolle spielen, kommt Dora (Maral Keshavarz) schnell an ihre Grenzen. Als sich herausstellt, dass Gotes gewalttätige Attacken auch krankheitsbedingt sind, Franzi sie am liebsten als Stiefmutter haben möchte, im Dorf sogar ein Fest für Gote vorbereitet wird, beginnt Dora das Leben immer mehr als „Existenzgemeinschaft“ zu begreifen, „als Wunder. Angesichts dessen kann die Vorstellung von Spaltung doch nur ein Irrtum sein.“ Nicht mediale Apokalypsen, vermarktete Paradiese, Polarisierungen von Ost und West, sondern allein die menschlichen Beziehungen, die Konflikte aushalten, sind bedeutsam. Kann sich der Mensch ändern?, fragt Dora. „Er kann sterben“, ist Gotes Antwort. Wenig später ist er tot. Man vermutet Selbstmord. Warum? „Aus Liebe“, kommentiert Dora. Um sein Umfeld von seinem Leid zu befreien schwingt ungesagt mit. Ratlosigkeit breitet sich aus. “Es gibt kein Ankommen. Streng genommen gibt es nicht mal ein Weiterkommen. Es gibt nur Kreisbahnen, auf denen sich alle bewegen, weil sie Angst vor dem Stillstand haben.“
Die meisten ZuschauerInnen scheinen begeistert. Wer Juli Zehs Roman gelesen hat, kann die Leistung der dramaturgischen Reduktion schätzen, vermisst aber gerade das, was Juli Zehs Roman ausmacht, die vielschichtige, inhaltliche und stilistische Komplexität, die im Gegensatz zur Bühnenversion trotz ihrer Fiktivität sehr authentisch wirkt.
Künstlerisches Team: Christian Stückl, (Regie), Stefan Hageneier (Bühne & Kostüme), Tom Wörndl (Musik), Leon Frisch (Dramaturgie), Björn Gerum (Licht).
Mit: Maral Keshavarz (Dora), Max Poerting (Robert), Jakob Immervoll (Gote), Anne Stein (Franzi), Steffen Link (Tom), Julian Gutmann (Steffen), Pola Jane O’Mara (Sadie)