©Bayerische Staatsoper, M. Rittershaus
In nur vier Wochen komponierte Händel „Semele“, geschäftstüchtig untertitelt als „Oper nach Art eines Oratoriums“, um das englische Publikum, das sich an italienischen Opern satt gehört hatte und englische Oratorien bevorzugte, zufrieden zu stellen. Aber „Semele“ ist hochdramatische Oper, die sich als barockes Spektakel wirkungsvoll umsetzen lässt.
Regisseur Claus Guth wählt statt Opulenz bühnenoptische Reduktion in heutigem Hochglanzformat und stellt die psychotische Situation der einzelnen Figuren in den Mittelpunkt, wobei er emotionalen Herzschmerz rund um die Liebe, schon durch rosenbestückte Riesenlettern „LOVE“, mehr noch durch schauspielerische Exzentrik und tänzerische Einlagen konterkariert.
Angelegt wie die Ca-Capo-Arien oszilliert die Bühnenoptik zwischen These und Antithese, zwischen gesellschaftlichem schönen Schein und den Abgründen von Semeles inneren Begierden, die in schwarzer Optik immer raumgreifender werden.
Diese Diskrepanz klingt schon in der klangschönen Ouvertüre an und wird über ein Schwarz-Weiß-Video exzellent visualisiert. Es regnet schwarze Federn der Trauer, über denen Jupiter in Vogeloptik wacht oder ist es schon Phoenix, sein Sohn mit Semele, der neuen Welten entgegenblickt? Beides ist denkbar in Roland Horvaths subtilen Videos, die dezent und schemenhaft immer wieder eingeblendet zum Leitsymbol nicht des barocken Memento mori, sondern für die Befreiung durch den Tod werden.
Die Oper beginnt in einem weißgelackten Festsaal. Die elegant gekleidete Hochzeitsgesellschaft wird zum Spiegel heutiger Renommeeveranstaltungen. Es ist ein Event mit viel Glanz nach außen und einem strengen Reglement hinter den Kulissen, dem man sich zu unterwerfen hat, will man erfolgreich sein, amüsant parodiert mit über einem Dutzend in symmetrischen Linien tänzelnden Dienern und dem ständigen Bedürfnis sich über gestellte Fotos zu outen. Eine schwarze Feder auf dem Boden macht Semeles inneren Bewusstseinswandel deutlich. „Wie kann ich hier nur raus?“ Mit der Axt schlägt sie brachial Löcher in ihr Hochglanzgefängnis. Abgründe eröffnen sich. Jupiters Reich gleicht eher einem Höllenschlund als Spiegelbild ihrer eigenen Begehrlichkeiten. Er begegnet ihr als Riesenrabe. In seinen Schwingen fühlt sie sich geborgen, aber nicht ebenbürtig. Ihr Hochmut kommt vor dem Fall. Bei Claus Guth verbrennt sie nicht, sie erstarrt. Die Decke auf den Knien verformt sich zu einem Baby. Ein mächtiger Vogel, man assoziiert Phoenix, fliegt in den weiten Horizont. Das freie Leben ist immer noch eine Vision. Die alten Rituale bleiben. Als Semeles Schwester bei der Hochzeit eine schwarze Feder am Boden bemerkt, zögert sie aber nur einen Augenblick und taucht ein in ihr reglementiertes, von Männern dominiertes Leben. Wenig hat sich bislang geändert, ist die Botschaft.
©Bayerische Staatsoper, M. Rittershaus
Die langen Da-Capo-Arien belebt Claus Guth durch variantenreiche Bewegungsdynamik, wodurch die Figuren in ihrem gesellschaftlichen Kontext und ihren psychotischen Untiefen noch deutlicher gezeichnet werden. Tanzeinlagen bis zum rasanten Breakdance mit witziger Machoparodie, hochprofessionell von Countertenor Orliński präsentiert, und eine Vertikaltuchakrobatik als Symbol männlicher Sehnsüchte, womit selbst Somnus, der Gott des Schlafes wachzubekommen ist, werden zum Publikumsknaller.
©Bayerische Staatsoper, M. Rittershaus
Doch das A und O dieser Oper sind die exorbitanten Koloraturarien. Welche Gefühlsintensität und Lebensfreude sie vermitteln können, beweist Countertenor Jakub Józef Orliński am besten. Als Athamas lässt er die Zuschauer die Achterbahn der Gefühle miterleben, zunächst rollenadäquat etwas zurückhaltend dann immer fulminanter, in der klanglichen Wucht nur noch von Michael Spyres als Jupiter übertroffen, der diesen Gott in seiner Sehnsucht nach einem Arkadien der schönen Nymphen ohne Eifersucht überaus sympathisch, empathisch und witzig als Revuetänzer zeichnet. Emily D’Angelo, die sich in dieser Spielzeit voll auf Händel spezialisierte, gibt mit ihrem durchdringenden Mezzosopran eine ausgesprochen lässig dominante Göttergattin ab. Optisch wie ein verführerisches Bond-Girl, weiß sie die Männer nach ihrem Gusto zu manipulieren und geht dabei über Leichen.
In diesem Umfeld entwickelt sich Branda Raes Semele von der braven Tochter zu einer ehrgeizigen, mutigen Frau, die aber letztendlich Opfer bleibt, weil ihr weder die Gesellschaft noch die Welt der Götter Raum für Freiheit gewährt und sie Gefangene ihrer eitlen Begierden ist. Die elf Da-Capo-Arien meistert Branda Rae in faszinierender Leichtigkeit sehr klangrein, ganz bewusst anfangs sehr leise, um Steigerungskapazitäten zu haben, dann mit einer derartigen Geschwindigkeit, dass Wahnsinn aufleuchtet. Doch insgesamt wirkt ihr Part im fulminanten Umfeld viel zu blass, ohne klangliches Charisma, das aufhorchen lässt. Das gelingt Nadeshda Karyazina in der Nebenrolle der Ino, die sie voller Eifersucht furios funkeln lässt. Ausgezeichnet singt und agiert der Chor (LauschWerk). Wie aus einem Mund gesungen, mit expressiver Gestik verdichtet setzt er temperamentvolle Akzente..
Unter der Leitung von Gianluca Capuano, gelingen auf jeder Ebene klare Klangwelten mit präzisen Einsätzen in wohlintonierten Klangfarben, resoluten Akzentuierungen, mit markant und empathisch interpretierten Accompagnato-Rezitativen.
Das Publikum jubelt. Diese „Semele“-Inszenierung, eine Kooperation mit der Metropolitan Opera in New York, ist das vergnüglichste Highlight der diesjährigen Opernsaison und hat trotzdem sehr viel Tiefgang.
Künstlerisches Team: Gianluca Capuano (Musikalische Leitung), Claus Guth (Inszenierung), Michael Levine (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Roland Horvath/rocafilm (Video), Ramses Sigl (Choreographie), Sonja Lachenmayr (Choreinstudierung), Yvonne Gebauer, Christopher Warmuth (Dramaturgie)
Mit Brenda Rae (Semele), Michael Spyres (Jupiter), Jonas Hacker (Apoll), Jakub Józef Orlinski (Athamas), Emily D’Angelo (Juno), Nadezhda Karyazina (Ino), Jessica Niles (Iris), Philippe Sly (Cadmus/Somnus), Milan Siljanov (Hohepriester), LauschWerk (Chor)