©C.H. Beck Verlag 2023
Dreh- und Angelpunkt sind für Sophie Schönberger anthrosophische Orte. Früher waren es Marktplätze, die heute, oft umgewandelt in Fußgängerzonen, erweitert durch Flughafen-Shoppingzonen oder Fußballarenen, kommerzialisiert wurden und durch die Digitalisierung zunehmend ihre soziale Bedeutung verlieren. Andere Orte werden musealisiert, indem infolge von Kommerzialisierung und Tourismus kaum noch alltägliche soziale Begegnungen vor Ort möglich sind. Dazu kommt noch die Vereinzelung und verbale Verrohung durch die Digitalisierung. In den sozialen Netzen strebt die Selbstentfaltung nach sozialer Anerkennung und Erfolg. Durch ständiges Sich-zur-Schaustellen über Selfies übermittelt sich ein authentisches Live-Erlebnis im engen Umfeld von Schönheit, Fitness, Essen und Unterhaltung, besser als jede Werbung, die von anderen wiederum imitiert und verbreitet wird, wovon letztendlich die ökonomischen Strukturen profitieren, nicht aber die mitmenschlichen Kontakte. Was nicht passt, Sophie Schönberger nennt es „Zumutung“, Jean Paul Sartre „die Hölle der anderen“, wird einfach weggeklickt.
Gleichzeitig steigt das Empörungsniveau. Im Schutz digitaler Anonymität und gleichgesinnter Foren entwickeln sich kollektive Verschwörungstheorien und radikale Hasstiraden. Öffentliche Demütigungen ohne jegliche Distanz und Souveränität auch gegenüber Politikern geben dem einzelnen ein Gefühl persönlicher Wirksamkeit und Bedeutung. Die eigene Freiheit wird verabsolutiert. Der moralische Imperativ die Freiheit des einzelnen darf nicht die Freiheit des anderen beeinträchtigen gilt nicht mehr. Diesen Prozess veranschaulicht Sophie Schönberger sehr gut durch die Maskendiskussion während der Covidpandemie. Die Maske wurde als Symbol sozialer Unfreiheit und politischer Diktatur zur sozialen Zumutung hochstilisiert, die Gesellschaft nicht zuletzt durch politische Agitation emotionalisiert und polarisiert. Andersdenkende nicht mehr aushalten zu müssen ist das Kerngeschäft der Populisten. Wer sich ihren Ansichten nicht anschließt, gehört einfach nicht mehr zum Volk, ist Volksverräter. Populisten wissen per se, was die Meinung des Volkes ist, weshalb sie demokratisch nicht mehr eruiert werden muss. Dabei bedienen sich Populisten auf eine historisch verherrlichende nationale Rückbesinnung, die Fakten wie KZ ignoriert, die Sicherheit vorgaukelt, die es in dieser Form gar nicht mehr gibt, benutzt politische Institutionen wie das Parlament statt als Ort der inhaltlichen Auseinandersetzung als Bühne für ihre Parolen der Selbstinszenierung.
Einen weiterem Aspekt der Entdemokratisierung sieht Sophie Schönberger im abnehmenden Konsens unseres „Welt- und Handlungswissens“. In der Zeit weniger Massenmedien konnte eine gemeinsame Meinung verbreitet werden. Jetzt schaffen die sozialen Medien ganz konträre Positionen. Die Trennung von Fakten und Meinungen, von wahren und unwahren Tatsachen verwischen. Unter dem Schutz der Anonymität wird die Kommunikation immer aggressiver.
Wer gesellschaftlich oder politisch frustriert ist, findet schnell ein Forum von Gleichgesinnten. Fakten werden emotional aufgeladen. Nicht zuletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit ermöglicht ganz legal die Verbreitung von Unwahrheiten, wenn man sie eben für die Wahrheit hält. Je komplexer die Welt wird, desto komplizierter ist die Wahrheitssuche. Eine absolute Wahrheit gibt es ohnehin nicht. Gerichtlich einzufordern, ist nur bei Klage möglich. Das bessere Mittel sind Appelle und freiwillige Selbstkontrolle. Stattdessen geht derzeit die Erosion des immer stärker getrennten Welt- und Handlungswissens weiter.
Geringe Wahlbeteiligungen zeugen von der Unzufriedenheit der Bürger, die sich ökonomisch ausgegrenzt fühlen. Keine gesellschaftliche Teilnahme führt aber in die Vereinzelung und oft auch in die mediale Gruppenbildung mit Gleichgesinnten, was populistische Parteien wie die AfD parolenmäßig „Wir sind das Volk“ auszunutzen wissen, indem sie das Unzumutbare einfach verbieten und sich selbst als Vertreter der absoluten Wahrheit darstellen. Wird Wahrheit aber aus der Sicht des Unzumutbaren nicht mehr reflektiert und diskutiert, ist der Abgesang der Demokratie nicht mehr weit.
Sophie Schönberger sieht das Miteinanderleben in der demokratischen Gemeinschaft ohnehin als Illusion einer idealisierten Vorstellung der Mittelschicht. Viel zu viele Menschen sind dabei ausgegrenzt. Umso wichtiger sind gesellschaftliche Begegnungen, womit sie am Schluss zur Bedeutung der öffentlichen Orte zurückkehrt. Die Politik muss deshalb eine Infrastruktur schaffen, in der trotz Privatisierung und Kommerzialisierung öffentliche Räume erhalten und geschaffen werden, flankiert von bezahlbaren Wohnungen in den Innenstädten.
Das ist alles nachvollziehbar, aber eben essaygemäß nur eine Verengung auf wenige Aspekte, die die Komplexität der Problematik nicht abdecken.
Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Ko-Direktorin des Instituts für Deutsch und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung. Es entsteht eine neue Gemeinsamkeit auf der Basis nationaler Gedanken, die nur die eigene Meinung spiegelt, aber nicht die Vielfalt der Zumutungen.
Sophie Schönberger -„Zumutung Demokratie – Ein Essay, C.H. Beck Verlag, München 2023, 188 S.