©Rowohlt Verlag
Unsere Vorstellungen von Liebe sind völlig überfrachtet, seit die romantische Liebe Anfang des 19. Jahrhunderts die ökonomische Zweckehe ablöste. Mann wie Frau sollen ein Kaleidoskop unterschiedlichster Rollen zwischen Charmeur und Held, Hure und Madonna erfüllen, was beide Seiten völlig überfordert. Es gibt keine Erfüllung aller Sehnsüchte. Wenn aber nur die Bilanz der eigenen Gefühle zählt, wirken die Defizite schnell unendlich groß.
Liebe aber fordert Selbstvergessenheit, Muse, verträgt kein Multitasking. „Liebe ist ein Egotrip zum anderen“. Die Leichtigkeit des Seins, wie sie sich bei Liebe einstellt, ist nichts anderes als die Ausschüttung von Dopamin und des Kuschel-und Bindungshormons Oxytocin. Liebe passiert nicht zwischen den Beinen, sondern im Hirn, wie man den Partner bewertet. Schnell wird aus dem Charmeur ein Egoist, aus der Fee eine Furie. Wie man den Partner denkt, so erlebt man ihn. Die biochemischen Prozesse wirken der Liebe entgegen.
Die „graue“ Scheidung im Alter wird immer häufiger. Ehe ist ohnehin mehr ein individuelles Projekt geworden als ein gemeinschaftliches. Frauen sind ökonomisch unabhängiger. Wer einmal geschieden wurde, neigt dazu schneller diese Entscheidung zu wiederholen.
Sich-Aufbrezeln jenseits der Fünfzig, die Entdeckung neuer Leidenschaften wirkt zuweilen wie eine zweite Pubertät. Erst die über Siebzigjährigen werden gelassener, streiten weniger, werden teilweise sogar humorvoller.
Aber es gilt für alle Altersstufen, „Zusammensein ist Balsam für die Gesundheit“. Neue Wege sind oft mit neuen Achterbahnen von Ängsten und Unsicherheiten begleitet von chronischen Belastungen und Stress. Es gilt die Faustregel, Verheiratete leben länger. Das Immunsystem wird durch die Gemeinschaft gestärkt, banale Krankheiten treten deutlich weniger auf. Gemeinsames Essen stärkt das Miteinander. Singles werden schneller krank, kein Wunder denn psychische und physische Empfindungen werden im selben Teil des Gehirns verarbeitet.
In dem Kapitel „Die lange Liebe und ihre Feinde“ stellt sich Bartens klar in die Tradition Søren Kierkegaards. „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Beginn der Unzufriedenheit“. Der gnadenlose Blick zerstört, die Erinnerung an einen liebevollen Moment dagegen stärkt positive Gefühle und psychische Stabilität.
„Die vier apokalyptischen Reiter“, Schuldzuweisungen, Abwehrmechanismen, Verachtung und schließlich Rückzug aus der Kommunikation ins Schweigen gelten als Todsünden der Ehe, die den Sog partnerschaftlicher Zerrüttung via Scheidung vorantreiben. Etwas Demenz, etwas Vergesslichkeit wäre in diesem Fall sehr heilsam. Konstruktive, respektvolle Dispute zeigen, dass die Beziehung für beide noch wichtig ist. Alarmglocken läuten zurecht, wenn gemeinsame Unternehmungen keine echte Freude mehr machen und man lieber mit anderen unterwegs ist. Geht der Streitpegel unter die Gürtellinie, gehen auch die gesundheitsfördernden Aspekte einer Partnerschaft verloren.
Eine lange Partnerschaft basiert auf gegenseitigem Respekt. Sich in Ruhe zu lassen und Selbstwirksamkeit zu entwickeln ermöglicht Selbstwertgefühl und Zufriedenheit im Alltag.
Bartens Strategien für lange Liebe kann man nur zustimmen. Zum Respekt kommt noch das wohlwollende Verwöhnprogramm, das dem anderen signalisiert, du bist mir wichtig, ich mag dich, ich lasse mir für dich etwas Besonderes einfallen. Das müssen keine großen Programme sein, gerade in den kleinen Überraschungen des Alltags leuchtet Zuneigung auf. Wichtig ist aber auch, unangenehmen Eigenschaften Einhalt zu gebieten, sich nicht als Opfer zu fühlen, sondern als Kämpfer für eine gute Beziehung. Selbst-Mitgefühl statt Selbstmitleid stärkt die Resilienz und signalisiert, dass man in Ordnung ist, wie man ist.
In „Sieben Rezepte für eine lange Liebe“ verortet Bartens die Partnerschaft strategisch, Zuneigung und Bewunderung füreinander haben und äußern, sich in Zeiten der Harmonie und des Diskurses nicht ab-, sondern zuwenden, hilfreiche Verhaltensweisen vom Partner übernehmen, Probleme, die man lösen kann, tatsächlich lösen, sich nicht in eine Sache verbeißen, sondern sie weiterentwickeln, zusammen Projekte initieren. Man weiß das alles, aber oft fehlt die Energie zur Umsetzung.
Untreue ist auch in diesem Buch ein schwieriges Kapitel. Dass Männer mehr fremdgehen als Frauen ist längst ein Klischee und hat vielmehr mit persönlicher Labilität zu tun. Entscheidend ist die Bedeutung eines Abenteuers zu analysieren statt gekränkt oder aufbrausend darauf zu reagieren. Abenteuer sind Indikatoren für das, was in einer Beziehung fehlt. Klare Ansagen, aber auch großzügiges Verzeihen können einen Neustart ermöglichen. Für das „Rettungspaket für lange Liebe“ gilt in erster Linie zu wissen und zu sagen, was man aneinander hat.
Kommunikation muss eine Beziehung stärken, darf sie nicht unterminieren. Es gilt verbale Wunden zu verhindern, da sie immer Narben hinterlassen. Statt unzufrieden zu sein und zu meckern, muss man die eigenen Sehnsüchte und Wünsche formulieren. Die Qualitäten des Partners zu entfalten ist die große Kunst langer Liebe. Auch wenn man die ganze Zeit zusammen ist, gehört Zeit füreinander eingeplant, durchaus mit kleinen Überraschungen. Der Sex wird automatisch mit den Jahren weniger, aber zärtliche Berührungen können nie genug sein. „Das Lob der langen Liebe“ ist auf jeden Fall eine Bereicherung.
©Stefan Hobmaier
Dr. med. Werner Bartens (1966*) studierte nach dem Abitur von 1985 bis 1993 Medizin, Geschichte und Germanistik an den Universitäten, Gießen, Freiburg, Montpellier und Washington D.C. 1992 legte er das US-amerikanische Staatsexamen in Medizin ab. Er promovierte anschließend zum Thema „Einfluss der Gene auf vorzeitigen Herzinfarkt“. Ab 1997 arbeitete Bartens als Buchautor, Übersetzer, freier Journalist und Redakteur in großen deutschen Zeitungen. Seit 2005 ist er leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der „Süddeutschen Zeitung“. Er gilt als einer der einflussreichsten deutschen Publizisten zum Thema Gesundheit. Seine Bücher „Was Paare zusammenhält“, „Glücksmedizin“ und das „Ärztehasserbuch“ standen monatelang auf der „Spiegel-Bestsellerliste“.
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Werner Bartens – „Lob der langen Liebe. Wie sie gelingt und warum sei unersetzbar ist“, Rowohlt Berlin, 2020, 316 S.